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Die unsterbliche, unerschöpfliche Imagination als Quelle der Utopie

Rezension zu Links: Ende und Anfang einer Utopie von Artur Becker

von Andreas J. Haller

Die Platypus Review #22 | November/Dezember 2022

Nicht erst seit der Wahlschlappe der Partei Die Linke bei der letzten Bundestagswahl ist offensichtlich, dass die Linke im weiteren Sinn marginalisiert und politisch irrelevant ist. Nun widmet sich der deutsch-polnische Schriftsteller Artur Becker der Krise der Linken in seinem kĂŒrzlich erschienenen Essay Links: Ende und Anfang einer Utopie:

Die europĂ€ische Linke, vor allem in Westeuropa, muss ihre IdentitĂ€t prĂŒfen und sich fragen, wer sie eigentlich einmal war und was aus ihr geworden ist. Sie muss wieder die kritische Methode der Dialektik erlernen und den Utopien ihren Entfaltungsraum und ihre -zeit zurĂŒckgeben (S. 101).

Um die Krise der Linken zu verstehen, fragt Becker in AnknĂŒpfung an Leszek KoƂakowskis AusfĂŒhrungen zum Sinn des Begriffes ‚Linke‘ von 1960 danach, was mit dem Begriff ‚links‘ ĂŒberhaupt gemeint ist. Angesichts des reaktionĂ€ren Rechtspopulismus werde unter ‚links‘ zunehmend die liberale Gegenbewegung mit ihrem SelbstverstĂ€ndnis von ProgressivitĂ€t gefasst, die sich in identitĂ€tspolitischer Wokeness und Bio-Lifestyle ausdrĂŒcke, letztendlich aber den gesellschaftlichen Istzustand reproduziere. Becker zeigt, dass die Ursache der Krise des Begriffs ‚Linke‘, der im Laufe der Geschichte an SchĂ€rfe und Klarheit verloren hat, viel Ă€lter ist. Die linke Rechtfertigung des Status quo finden wir bereits im Stalinismus, der behauptete, die sozialistische Utopie verwirklicht zu haben. Der im ‚realsozialistischen‘ Polen aufgewachsene Becker sieht das Scheitern der Utopie angesichts des stalinistischen Horrors als Problem fĂŒr die Linke heute, da sie in der Folge das utopische Denken insgesamt aufgegeben habe. Auch dort, wo sie nicht einer Sowjetnostalgie nachhĂ€ngt, komme die Linke ĂŒber sozialdemokratische Realpolitik oder populistisches Taktieren nicht hinaus und bleibe so an der schlechten Wirklichkeit haften. Wenn die Linke durch das Denken der Utopie bestimmt werde, bilden Stalinismus und Sozialdemokratie die Rechte innerhalb der Linken.

Leszek KoƂakowski (l.) und Henri Lefebvre zusammen auf einer Diskussionsveranstaltung am 9. MĂ€rz 1971 in Amsterdam.1

Mit KoƂakowski und in Bezug auf die marxistische Tradition versucht Becker die Utopie als „ureigene Kraft“ der Linken wiederzubeleben (S. 27). Er ist sich bewusst, dass dies kein naiver Utopismus sein kann, der sich das „gelobte Land des ewigen Friedens und der ewigen Freiheit durch die Aufhebung der KlassenwidersprĂŒche“ ausmalt (S. 28). Neben dem utopischen sieht er das dialektische Denken als weiteres Kriterium fĂŒr eine Linke, das dieser aber heute ebenfalls fehle. In der Negation des Bestehenden sieht Becker eine dialektische Bewegung, die das Denken ĂŒber das, was ist, hinaustreibe. Diese Bewegung zeichnet er als Ideengeschichte der Linken nach, von den bĂŒrgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts ĂŒber den Schrecken von Stalinismus und Faschismus im 20. Jahrhundert bis zu den aktuellen Auseinandersetzungen um Klima- und IdentitĂ€tspolitik. Beckers Essay ist dabei stellenweise sehr hellsichtig, wenn er z.B. auf die Bedeutung der Utopie fĂŒr die Gesellschaft als Ganzes hinweist und der Reduktion auf den Kampf fĂŒr partikulare Gruppenanliegen (gegen Rassismus und Homophobie, fĂŒr Frauenrechte usw.), der die heutige Linke kennzeichnet, entgegensetzt. Auch in seiner historischen Perspektive auf die Linke argumentiert er zutreffend, dass die Linke unfĂ€hig sei, ein Bewusstsein fĂŒr die Möglichkeit gesellschaftlicher VerĂ€nderung zu schaffen, wenn sie die Erfahrung des Scheiterns der sozialistischen Utopie nicht reflektiere.

Doch dieses Scheitern der sozialistischen Revolution sieht er in der Fixierung der Utopie als herrschendes Regime und dem sich daraus ergebenden Verlust des utopischen Geistes im Ostblock. Das Versagen der Zweiten Internationale zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und die politische und militĂ€rische Niederlage der sozialistischen Revolution in Deutschland hat fĂŒr ihn hingegen keine Signifikanz und wird völlig ignoriert. Dass die Utopie des Prager FrĂŒhlings eines ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ 1968 brutal niedergeschlagen wurde, ist natĂŒrlich richtig. Aber das Problem des Stalinismus lĂ€sst sich nicht auf die gewaltsame UnterdrĂŒckung des utopischen Denkens reduzieren.

Demonstranten neben einem brennenden sowjetischen Panzer in Prag nach der Invasion von Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968.

Gegen das Festnageln der Utopie auf ein konkretes Endziel argumentiert Becker, dass eine dialektisch gedachte Utopie, selbst wenn sie Inhalte wie „Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit“ (S. 74) setze, sich nicht positiv abschließen dĂŒrfe und eine Offenheit in Bezug auf die Zukunft brauche. Eingespannt in ein VerhĂ€ltnis von Theorie und Praxis, mĂŒsse die Utopie in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit stets ĂŒber ihre vorlĂ€ufige Realisierung hinausgetrieben werden:

Die Utopie ist also, richtig verstanden, immer die dialektische Einheit von Materie und Geist: die in sich gespannte Einheit ihrer materiellen, praktischen Verwirklichung und ihrer nie zu verwirklichenden Idee, die immer schon dabei ist, als ein niemals einzuholendes Korrektiv die Wirklichkeit der Utopie auf ihre GĂŒltigkeit hin zu ĂŒberprĂŒfen (S. 74).

So betrachtet Becker das bewusste Wollen der Menschen als entscheidend fĂŒr die praktische Gestaltung der materiellen RealitĂ€t, doch dabei bleibt das Problem der konkreten politischen Praxis ungeklĂ€rt, weil fĂŒr ihn „nicht die Politik [
] die Linke entscheidend definiert“ (S. 76). Gegen Ende seines Essays schlĂ€gt er in diesem Zusammenhang den Bogen zu Simone Weil, einer Aktivistin und Autorin der 1930er- und 40er-Jahre, die anarchistischen Strömungen nahestand und gleichzeitig bekennende Christin war. Weils Ansatz einer spirituellen Politik mit dem Postulat menschlicher Pflichten wie Aufrichtigkeit und SolidaritĂ€t will den Menschen neuen Halt gegen die gesellschaftliche Entwurzelung geben. Damit wird aber Politik von der kollektiven, gesellschaftlichen Praxis in den Bereich persönlicher Verantwortung verschoben. In Weils Verbindung von sozialer Utopie und SpiritualitĂ€t sieht Becker ein Modell fĂŒr die Linke heute, da sich eine Utopie nur dann verbreiten könne, wenn man an sie glaube (S. 126). Beckers Betonung des eschatologischen Moments der Linken und die Forderung eines intuitiven, hĂ€retischen Denkens gegen die Überbetonung der RationalitĂ€t fĂŒhrt ihn mit Bezug auf den Dichter William Blake dazu, die Utopie gegen die RealitĂ€t in „der unsterblichen, unerschöpflichen Imagination“ zu verorten (S. 138).2 Obwohl er zugibt, dass das Utopische auf Faktisches angewiesen ist, meint er, dass dieses sich nicht aus der Wirklichkeit der jetzigen Welt „berechnen“ lasse (S. 118). Seine Negation der schlechten Wirklichkeit nimmt also nicht deren innere WidersprĂŒche auf, sondern setzt ihr voluntaristisch ein imaginiertes Anderes entgegen.

Marx hingegen nahm an, dass die Utopie als Möglichkeit einer anderen Gesellschaft nicht der RealitĂ€t schlechthin entgegengesetzt ist. Seine dialektische Einsicht zielt auf den Selbstwiderspruch der bĂŒrgerlichen Gesellschaft, der sich im industriellen Kapitalismus entfaltet. Kommunismus ist fĂŒr Marx keine Abstraktion einer reinen Setzung des Willens, sondern angelegt in den vergesellschaftenden Tendenzen des Kapitals selbst. Daher schreibt er in einem Brief an Arnold Ruge: „Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien“.3 Es geht darum, gesellschaftliche Tendenzen als Möglichkeiten zu sehen, die ĂŒber sich selbst hinausweisen. Den Freiheitsspielraum, den die explodierenden ProduktivkrĂ€fte schaffen, der aber gleichzeitig von der Krisenhaftigkeit der sozio-ökonomischen VerhĂ€ltnisse unterminiert wird, gilt es, auf seiner eigenen Grundlage politisch zu realisieren. Die Linke hat sich historisch aus den KĂ€mpfen der bĂŒrgerlichen Revolution als politische Idee entwickelt. Diesem politischen Charakter weicht Becker aber aus, wenn er sich in Philosophie und Soziologie flĂŒchtet und mit Weil nicht nur die Ablehnung von Parteien, sondern auch den Vorbehalt gegenĂŒber Lenin und Trotzki teilt. Hier projiziert er das Scheitern der sozialistischen Revolution und dessen Institutionalisierung unter Stalin zurĂŒck auf die Bolschewiki insgesamt. Unter dem Eindruck des Stalinismus wird der Versuch, die Utopie nicht nur als Möglichkeit zu denken, sondern eine freie und egalitĂ€re Gesellschaft tatsĂ€chlich politisch zu realisieren, als gefĂ€hrlich betrachtet, weil sie fixiert werde und zu einem Ende der gesellschaftlichen Entwicklung und damit der FreiheitspielrĂ€ume fĂŒhren könnte. Hier zeigt sich deutlich Beckers Ambivalenz gegenĂŒber der Utopie als Telos des politischen Handelns.

Die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung legen am 20. Juni 1789 den Ballhausschwur ab, „Der Ballhausschwur“ (lavierte Federzeichnung von Jacques-Louis David, 1791).

Wenn das Denken der Utopie ein Charakteristikum der Linken ist, dann braucht die Linke eine Form, in der die Utopie als gesellschaftliche Aufgabe theoretisch ins Bewusstsein gesellschaftlicher Akteure treten und in politische Praxis umgesetzt werden kann. Diese Einheit von Theorie und Praxis mĂŒsste in Hinblick auf den Inhalt der Utopie politisch organisiert werden. Über die Rolle und Form der politischen Organisation gibt Becker allerdings keine Auskunft. Das liegt auch daran, dass er die Linke nicht fĂŒr tot hĂ€lt, sondern annimmt, sie wĂŒrde nur in einer Krise stecken. Damit wird impliziert, den bestehenden Parteien, Organisationen und Bewegungen fehlten lediglich die richtigen, die guten Ideen. Becker adressiert eine ominöse gesellschaftliche Linke als politische Akteurin, der er mit seinem Essay einen Weg weisen möchte. Beckers romantischer Antikapitalismus, der eine „vereinigte Linke“ anstrebt, „um eine echte, große Utopie zu erkĂ€mpfen“ versandet aber schließlich in den banalen sozialdemokratischen Phrasen „Teilhabe und Chancengleichheit“, wobei Dialektik zu demokratischem Pluralismus regrediert, in der jede Stimme Gehör findet (S. 137–138). In diese Stimmen scheint er sich selbst einzureihen. Er ist freilich weder Aktivist noch Politiker, sondern Schriftsteller. Als solcher glaubt er an die Kraft des Wortes. Aber es kann bei der Widerbelebung des utopischen Denkens der Linken wohl kaum darum gehen, pluralistisch Ideen zu sammeln, die den Menschen von ihrer Imagination eingegeben werden. In der Geschichte gab es und auch heute gibt es noch zahlreiche gute Ideen und trotzdem stehen gesellschaftliche Freiheit und soziale Gleichheit als Ideen und Aufgaben immer noch unverwirklicht im Raum der Geschichte. | P

Artur Becker: Links: Ende und Anfang einer Utopie. Westend: Frankfurt a. M. 2022, 144 Seiten, 16 €

Andreas J. Haller ist Mitglied der Platypus Affiliated Society.


1    Verhoeff, Bert / Anefo (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leszek_Kolakowski_and_Henri_Lefebvre_1971.jpg), „Leszek Kolakowski and Henri Lefebvre 1971“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en

2     In Becker zeigt sich ein utopischer Idealismus, der Platypus und KoƂakowski Anfang des Jahres vom „anti-Linken Marxisten“ Benedict Cryptofash in der englischsprachigen Platypus Review vorgeworfen wurde (siehe: Benedict Cryptofash: „The Left is not a Concept“, Platypus Review Nr. 142 (Dezember 2021/Januar 2022), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/12/01/the-left-is-not-a-concept/; siehe auch die Replik auf Cryptofash: Chris Cutrone: „The Left is a concept — but social revolution is not: A response to ‚Benedict Cryptofash‘“, Platypus Review Nr. 143 (Februar 2022), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2022/02/01/the-left-is-a-concept-but-social-revolution-is-not-a-response-to-benedict-cryptofash/). Cryptofash negiert vulgĂ€rmaterialistisch die Rolle des Bewusstseins fĂŒr politische Praxis und fordert provokativ die Abschaffung der Linken, die von Mystik und Idealismus durchdrungen sei. In seinem Essay versucht Becker genau diesen mystischen und idealistischen Aspekt stark zu machen und spiegelt damit Cryptofashs Einseitigkeit.

3    Karl Marx: „Brief an Arnold Ruge“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 1), Hrsg. Institut fĂŒr Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1976, S. 345. Online abrufbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_337.htm.