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Deutlich wurde: Die Sieger von 1989 waren doch nicht so erfolgreich

Ein Gespräch mit Stefan Bollinger

von Henning Schneider und Daniel Krank

Die Platypus Review Ausgabe #19 | Mai/Juni 2022

Stefan Bollinger ist Politikwissenschaftler und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt deutsch-deutsche und osteuropäische Geschichte. Außerdem ist er Redakteur der Zeitschrift Marxistische Erneuerung.

Das Interview wurde am 15.04.2021 von den Platypus-Mitgliedern Henning Schneider und Daniel Krank geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.

Henning Schneider und Daniel Krank: Auf unserer Podiumsdiskussion „US-Wahlen und die Linke“[1] wurdest du gefragt, wie du Progressivismus, also die Politik der sozialen Gerechtigkeit, von Marxismus abgrenzen würdest. Was bedeutet das Verhältnis dieser Begriffe für die Linke heute?

Stefan Bollinger: Progressivismus ist für mich ein Phänomen, dass im 19. Jahrhundert im Umfeld des Liberalismus aufkommt und darauf abzielt, das bestehende System zu verbessern, ohne es zu sprengen. Man müsste die Frage aber anders stellen: Was müsste eine sozialistische Bewegung leisten? Soziale Bewegungen entstehen in konkreten Gesellschaften und reagieren auf deren Probleme, Widersprüche und Repressionen. Sie alle müssen sich die Frage stellen, ob sie die Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse anzustreben versuchen oder ob sie lediglich Kosmetik betreiben möchten. Auch die sozialistische Bewegung, die spätestens Mitte der 1840er als Antwort auf den sich formierenden Kapitalismus entsteht, sieht sich mit dieser Frage konfrontiert. Auf der Tagesordnung stehen zunächst spontane Widerstandshandlungen: Maschinenstürmerei, Streiks, die Chartistenbewegung, Gewerkschaftsbildung und die Forderung nach höheren Löhnen, weniger Arbeitszeit, Verbot der Kinderarbeit. Der Marxismus aber geht über unmittelbare Forderungen hinaus und unternimmt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der bestehenden Ordnung, die nicht auf Philosophie und Juristerei beschränkt ist, sondern sich mit den ökonomischen Grundlagen dieser Überbauerscheinungen beschäftigt. Das ist der Kern des Konflikts des Marxismus mit progressivistischen Ansätzen. Der Marxismus zielt – trotz all seiner Vereinfachungen seit Kautsky und Stalin – auf die Klassenwerdung der Arbeiter, auf ihre ideologische Aufrüstung, ihren tagtäglichen Klassenkampf und die Perspektive einer freien Gesellschaft. Marx und Engels dachten aber zu keinem Zeitpunkt, dass sie eine Blaupause für diese Gesellschaft in der Schublade liegen haben. Wir werkeln nun seit 170 Jahren unter kommunistischen, sozialdemokratischen und anarcho-syndikalistischen Vorzeichen an ihr, wissen aber nur, was alles nicht funktioniert hat. Dennoch werden wir diese Suche fortsetzen müssen.

Was genau war der marxistische Ansatz zu der Arbeiterklasse, die sich zunächst an sich zusammenschließt und dann den Sozialismus als Ideologie der Arbeiterklasse hervorbringt?

Marx und Engels gingen jedenfalls nicht davon aus, dass die Arbeiterklasse bereits eine Klasse ist, die die neue Gesellschaft geradlinig voranbringen könnte. Sie haben genau unterschieden zwischen der Klasse an sich – Subjekte, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen – und der Klasse für sich, zu der sich erstere erst entwickeln muss. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es die etwas mechanistische Vorstellung, dass die Tatsache der gemeinsamen Arbeit in einer großen Fabrik bereits zu einer gemeinsamen Organisation bewegt. Heute ist es viel schwieriger, Menschen zur Organisierung oder gar zu Handlungen zu bewegen, da die Mehrheit in unseren Breiten nicht mehr in großen Industriebetrieben arbeitet.

Aber war es nicht bereits in den 1840ern so, dass die Arbeiterklasse zerstreut war, teils widersprĂĽchliche Interessen hatte und in vielerlei Hinsicht desorganisiert war? Inwiefern ist die Materie, die der Marxismus damals angegangen ist, von der heutigen Materie qualitativ unterschieden?

Der Unterschied ist, dass damals eine Entwicklung zum GroĂźunternehmen stattfand. Dort war es zumindest viel leichter, Arbeiter zu organisieren als in kleinen Betrieben, geschweige denn im Bereich des Landproletariats.

Auf der erwähnten Podiumsdiskussion sprachst du von den Folgen der Sanders-Kampagne für die Linke. Die Linke bekam, was sie wollte, Trump ist weg, doch nun ist Biden im Weißen Haus. Stellt Biden einen Fortschritt für die Linke dar?

Es besteht immer ein Fortschritt, wenn du in der Lage bist, einen besonders reaktionären, rassistischen, nationalistischen Klüngel zu begrenzen. Es war auch psychologisch wichtig, diese festgefahrene Trump-Konstellation zu überwinden. Biden hat begriffen, dass es sinnvoll ist, die mehr oder minder funktionierende soziale Ausrichtung der Politik unter Obama zulasten derjenigen zu betreiben, die Geld haben. Nicht nur darin liegt ein Unterschied, die Demokraten sind auch in all den Fragen der Rassendiskriminierung das Gegenteil von Trump. Während das die positiven Aspekte der Wahl Bidens sind, gibt es auch Bereiche, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob wir mit der neuen Regierung glücklicher als mit der alten sind. Das betrifft insbesondere die Wiederbelebung einer Weltmachtpolitik, die auf eine Konfrontation mit China und Russland abzielt. Man wird die nächsten Monate abwarten müssen, aber wir sehen bereits jetzt am Beispiel der Ukraine-Frage, dass diese Konfrontation wieder stark angeheizt wird. So unangenehm uns Trump auch in vielen seiner autokratischen, rassistischen, nationalistischen und größenwahnsinnigen Position war, so hat er vernünftigerweise nicht dazu geneigt, militärische Abenteuer einzugehen und wenn man ihn gelassen hat, war er bereit, sich mit Russland und Nordkorea ins Benehmen zu setzen. Trotzdem ist es besser – das bekräftige ich nochmal –, einen zwar problematischen, aber doch berechenbareren Biden an der Spitze zu haben als den etwas sprunghaften Trump.

Ich glaube, für linke Politik in den USA ist wichtig: Der Erfolg, den die Demokraten haben konnten ist nicht zuletzt auch der Mobilisierung der linken Kräfte innerhalb der Demokratischen Partei zu verdanken. Auch wenn sie sich zum Schluss mit Bernie Sanders nicht durchsetzen konnten, haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass man zumindest einen Teil der Kräfte in der Gesellschaft wieder ansprechen konnte, die bislang von den Demokraten nicht angesprochen worden sind. Dennoch hat Trump unverändert einen erheblichen Rückhalt in Arbeiter-Gegenden, die eigentlich eher sozialdemokratisch orientiert sein müssten. Er wird also auch von denen unterstützt, die unter seinem Rassismus leiden, was man nur schwer verstehen kann und worin für linke Politik eine Herausforderung besteht. Wenn Linke unter diesen Bedingungen agieren wollen, ist es sicherlich nicht verkehrt, charismatische Anführer wie Sanders oder Corbyn zu haben. Es ist also gut, wenn linke politische Kräfte aus dem intellektuellen Elfenbeinturm heraustreten und in der Lage sind, Positionen so zu vermitteln, dass auch der normale Bürger sie zur Kenntnis nehmen kann. Trotzdem scheint der Versuch, die Demokratische Partei und Labour in Großbritannien dauerhaft auf links zu trimmen, in beiden Fällen gescheitert zu sein. Allerdings halte ich auch die Erkenntnis der Linken in den USA für richtig, dass man nach dem Sturz Trumps jetzt den Kampf gegen Biden führen muss.

Was definiert einen Sieg fĂĽr die Linke bzw. inwiefern braucht die Linke Sozialismus als Horizont, wenn man von Sieg oder Niederlage spricht?

Wir sollten zunächst nicht ganz so groß anfangen. Nach 1989 war weltweite linke Politik für 20 Jahre beerdigt. Das war für die Sozialdemokratie genauso eine Zäsur wie für den Anarchosyndikalismus. Die ganze Linke hat in den Abgrund geschaut und vielleicht sind die ein oder anderen auch hineingefallen. Erst durch die Entwicklung in Folge der Weltwirtschaftskrise 2007 hat es wieder die Chance für linke politische Kräfte gegeben, sich stärker ins Bewusstsein zu rücken. Es wurde deutlich, dass die Sieger der Geschichte von 1989 doch nicht so erfolgreich waren. Hier ist der Punkt, an dem die Linke – vor allem in den USA, aber auch in anderen Ländern – wieder neu anfangen und sagen konnte: Es gibt offenbar Momente, in denen das bestehende System an seine Grenzen stößt; es ist nicht in der Lage, seine wirtschaftlichen Prozesse zu beherrschen; es hat eine Technologie-Revolution losgetreten, deren soziale Folgen es offenbar nur bedingt bewältigen kann; und es ist nicht in der Lage, die ökologischen Herausforderungen zu meistern. Diese Umstände werden natürlich nicht nur von der Linken erkannt, unsere Konkurrenten von rechts sind leider viel erfolgreicher im Ausnutzen dieser Lage.

Eine linke politische Kraft müsste den einfachen Arbeiter, den einfachen Angestellten, das intellektuelle Proletariat ansprechen, um wieder stärker an Einfluss zu gewinnen. Das schafft momentan keine der drei linken Parteien in Deutschland, die sich stattdessen Menschen aus gehobeneren gesellschaftlichen Verhältnissen zuwenden. Auch in der Linkspartei, der ich angehöre, gibt es „böse“ Genossinnen, die auf das Problem hinweisen und dann Ärger bekommen, wie man zuletzt am Beispiel von Sahra Wagenknecht gesehen hat. Über ihre Aussagen lässt sich sicher streiten, aber sie spricht Probleme an, die die wohlfühlorientierten Linken gerne ausblenden. Der einfache Bürger sieht diese Probleme natürlich dennoch und findet blöderweise Antworten nur bei den Rechten.

Sicherheitsbeamte an der offenen Berliner Mauer, aufgenommen am 22. Dezember 1989.
Raphaël Thiémard from Belgique, Berlin 1989, Fall der Mauer, Chute du mur 24, CC BY-SA 2.0

Hätte in einem Sieg von Sanders ein Fortschritt zum Sozialismus bestanden? Was bedeutet das für den Begriff „Sozialismus“, wenn sein prominentester Vertreter heute Bernie Sanders ist?

Durch das Handeln von Bernie Sanders und der linken Kräfte, die hinter ihm standen, ist in den USA zumindest der Begriff „Sozialismus“ wieder verwendbar geworden. Es gibt sicherlich auch weiterhin Antikommunisten und Antisozialisten in den USA, aber offenbar ist es möglich, heutzutage wieder über Sozialismus zu sprechen und nicht gleich ermordet zu werden. Das ist ein Fortschritt. Wenn heute radikale linke Politiker wie Sanders oder Corbyn an die Macht kommen, sind sie natürlich auch wieder in politische Strukturen eingebunden. Die Frage ist: Inwieweit können sie diese aufbrechen? Letztendlich hängt die Beantwortung diese Frage damit zusammen, ob man in der Öffentlichkeit, auf der Straße und im zivilgesellschaftlichen Umfeld tatsächlich eine Bewegung schafft, die ihre Politik spürbar und sichtbar unterstützt.

Lass uns zum zweiten Teil der Frage zurückkehren: Was bedeutet es für den Begriff des Sozialismus, wenn Sanders heute derjenige ist, der für diesen Begriff steht? Du hast eben gesagt: „radikale linke Politiker wie Sanders oder Corbyn“. Denkst du, dass Sanders und Corbyn radikal links oder sozialistisch sind?

Nein, ich sage nur: Du brauchst immer Einstiege in den Wandel. Du musst natürlich auch deutlich machen, dass du eigentlich ein Stückchen weiter willst, aber heute wäre schon das Einfordern demokratischer Prinzipien in der Wirtschaftspolitik eine sehr radikale Forderung. Natürlich ist das kein Sozialismus, aber man muss es – im positiven Sinne – als Schritt hin zu einer sozialistischen Gesellschaft verkaufen, die sich vom Profitprinzip löst.

Der Begriff des politischen Progressivismus stammt ursprünglich aus dem frühen 20. Jahrhundert von Theodore Roosevelt. Ebenso könnte man Franklin D. Roosevelt und den New Deal in diese historische Tradition einordnen. Heute scheinen viele Linke – besonders im progressiven Flügel der Demokraten und innerhalb der Democratic Socialists of America (DSA) – einen sehr positiven Bezug dazu zu haben. War der New Deal ein linkes Projekt?

Sicherlich nicht, aber er bewies zumindest, dass es möglich ist, dass der Staat mit gesellschaftlicher Unterstützung in Wirtschaftsprozesse eingreifen kann und muss, insofern ist er auch für linke Politik interessant und wichtig. Ich glaube, viele begreifen gerade erst, dass die neoliberale Vorstellung vom Staat nicht richtig ist. Denn das massive Eingreifen der meisten Staaten im Rahmen der Corona-Pandemie zeigt, dass man den Staat als gestaltendes Instrument, das progressive Veränderungen herbeiführen kann, ernst nehmen muss. Auch der New Deal veranschaulicht diesen Umstand: Er war die eine Alternative im Angesicht der Weltwirtschaftskrise 1929, der Faschismus war die andere. Letzterer hat auch funktioniert, aber wir wissen, wo er hingeführt hat. Daher ist der positive Bezug auf den New Deal, insbesondere für die US-amerikanische Linke, aber auch für die Linke in Deutschland durchaus nicht abwegig. Der Staat verschuldet sich für den Aufschwung der Wirtschaft, aber das ermöglicht keinen Sozialismus. Daher sollte man darauf achten, dass die Wirtschaftseingriffe durch demokratische Räte geleitet werden, die aus Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen bestehen.

Rechtshistorisch betrachtet kann man die heutigen Betriebsräte in Deutschland bis zu den Räten 1918 zurückverfolgen. Gleichzeitig kann man nicht davon sprechen, dass sie ihren politischen Inhalt von 1918 bis heute beibehalten haben. Mich erinnert das ein wenig an Lenins Frage: „Wer – wen?“[2]. Also wer führt wen und wohin, wer hat die politische Führung inne? Was bedeutet es, wenn wir mit dieser Frage an den New Deal damals sowie an den Green New Deal heute herantreten?

Ein wie auch immer geartetes Rätesystem kann nur als relevant betrachtet werden, wenn es über einen längeren Zeitraum hinweg politischen Einfluss ausübt. Die bei Kriegsende 1918 mehrheitssozialdemokratisch kontrollierten Räte waren zwar keine Revolutionsorgane, aber eine Form der Mitbestimmung. Das sind die Betriebsräte heute auch noch, aber die Gefahr ist groß, dass sie – bewusst oder unbewusst – eingekauft werden. Man muss eine solche Entwicklung verhindern, indem man die Arbeiter, Angestellten und Intellektuellen im Umfeld der Betriebsräte immer wieder dazu anstachelt, ihre Vertreter kritisch zu hinterfragen und zu kontrollieren. Wir sollten Lenin dankbar sein, denn in der Russischen Revolution gab es immer die Option, die Räte abzuberufen. Historiker haben den Nachteil, dass sie wissen, wie es früher ausgegangen ist, aber meistens nicht wissen, wie es heute besser geht. Das bremst den Optimismus.

Inwiefern ist dieser Optimismus begründet, wenn der New Deal die damals moskautreue Kommunistische Partei der USA (KPdUSA) dazu gebracht hat, die Demokraten zu unterstützen? Auch Sanders ist als Demokrat angetreten und hat seine Unterstützer nach seiner Niederlage dazu aufgefordert, die Demokraten zu wählen.

Als Politiker steht man manchmal vor der Herausforderung, sich für etwas zu entscheiden, das man nicht unterstützt. Ich würde das Sanders nicht vorwerfen. Er hat in der politischen Situation das gemacht, was vermutlich aus seiner Sicht und für Linke in den USA am sinnvollsten ist, nämlich den Fokus auf die Beseitigung von Donald Trump zu legen. Ich denke, dass 2022 ein spannendes Jahr wird, denn dann wird die Pandemie hoffentlich zu Ende sein und die Rechnungen werden präsentiert. Irgendjemand muss bezahlen, was in dieser Krise nicht erwirtschaftet worden ist und was als Unterstützungsleistungen an Firmen gezahlt worden ist. Das wird vor allem die arbeitenden Leute treffen und daher stehen uns spannende Kämpfe bevor.

Linke innerhalb und außerhalb der Linkspartei führen eine Diskussion entlang der Linien „Klassenpolitik gegen Identitätspolitik“. Was denkst du über diese Diskussion?

Ich denke nicht, dass eine Diskussion entlang dieser Linien sinnvoll ist. Die historische Linke war schon einmal weiter, da sie begriffen hat, dass diese Dinge zusammengehören. Die Linke hat geglaubt, dass alle Probleme gelöst werden könnten, sobald sie an der Macht ist. Die Geschichte hat gezeigt, dass viel Vernünftiges erreicht worden ist, das heute noch Bestand hat, auch wenn nicht alle Probleme vollumfassend gelöst werden konnten. Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwidersprüchen kam erst in den 1960ern und 1970ern unter Linken in der Bundesrepublik auf, die in Kontakt zu den Marxismus-Diskussionen in Osteuropa und China standen. Natürlich ist die Diskussion um Klassen- und Identitätspolitik nicht abwegig, es werden dort völlig berechtigte Fragen der Diskriminierung und Benachteiligung gestellt. Aber die Schlüsselfrage wird weiterhin die Frage nach anderen Eigentumsverhältnissen sein. Ich sehe mit Sorge, dass viele Linke länger über die Frage nach dem richtigen Gendern diskutieren als darüber, dass wir alle den gleichen Feind haben, der etwas mit dem Kapital zu tun hat.

Die Linkspartei bereitet sich auf ein rot-rot-grĂĽnes RegierungsbĂĽndnis (R2G) vor. Gleichzeitig versteht sie sich selbst als Partei der sozialen Bewegungen. In welcher Beziehung stehen diese AnsprĂĽche zueinander?

Es wird kein R2G geben – das wäre insbesondere für die Linkspartei verhängnisvoll. Erstens werden dazu die parlamentarischen Mehrheiten fehlen und zweitens möchte die Linkspartei eine Partei der sozialen Bewegungen sein. Letzteres hat sie punktuell geschafft, sie konnte eine Verbindung zu Teilen der Gewerkschaften und zu eher identitätsorientierten Akteuren der Zivilgesellschaft herstellen. Aber ihr Schwachpunkt ist die fehlende strukturelle Verankerung, da ist noch viel Luft nach oben.

Aber gleichzeitig scheint die Partei derzeit nach R2G zu streben. WĂĽrdest du dem zustimmen?

Es gibt einen starken Teil der Partei, der R2G für die Lösung hält. Einerseits haben wir mit Susanne Hennig-Wellsow eine Parteivorsitzende, die das mit Begeisterung in ihrem Bundesland praktiziert. Andererseits haben wir mit Janine Wissler eine Parteivorsitzende, bei der fraglich ist, ob sie für R2G dauerhaft zu haben ist. Die Auseinandersetzungen darüber in der Partei sind alles andere als abgeschlossen, aber ich habe große Bauchschmerzen dabei, wenn ich daran denke, was die Linkspartei programmatisch für R2G opfern müsste.

Am Anfang hast du die berühmte Formulierung benutzt, dass die Klasse „an sich“ zur Klasse „für sich“ werden soll.[3] Das spielt auf die Partei an: Die Partei im marxistischen Sinne hat eine Dimension, die über das grundsätzliche bürgerliche Verständnis hinausgeht. Würdest du sagen, dass eine solche Partei derzeit in Form der Linkspartei besteht? Und falls nicht: Ist sie heute noch notwendig?

Es dürfte aufgefallen sein, dass ich das ganze bisherige Gespräch über um die Frage nach der Partei herumgeeiert bin. Die Partei im marxistischen – und im leninistischen – Sinne ist die einzige Garantie, die politische Auseinandersetzung zum Erfolg zu führen. Doch hinter der Partei-Frage steht ein ganz großes „Aber“. Bei allem Respekt sind DKP und MLPD nur Randphänomene und die Linkspartei ist definitiv keine Partei im marxistischen Sinne. Die Linkspartei hat eine ausgeprägte bezahlte Funktionärsschicht, die sich zusammen mit den Stiftungseinrichtungen herausgebildet hat, aber ihre Fähigkeit, in die Gesellschaft auszustrahlen hält sich in Grenzen. Abgesehen davon haben wir die größere Schwierigkeit, dass wir sehr zwiespältige historische Erfahrungen mit den marxistisch-leninistischen Parteien nach 1917 haben. Das waren straff organisierte Parteien, die zunehmend die Fähigkeit zur inneren Demokratie und Selbstkritik verloren haben und zu Hochzeiten des Stalinismus außerordentlich repressiv und zum Teil auch mörderisch agiert haben. Daher ist es verständlich, dass dieses Parteikonzept bei vielen Linken in Verruf geraten ist. Ich versuche dennoch den ursprünglichen Ansatz einer Partei zu wahren, die sich sowohl demokratisch formiert als auch eine klare Politik vertritt und durchsetzt – letzteres fehlt bei der Linkspartei momentan völlig. Es gibt Risiken, auf die uns die Geschichte der kommunistischen Parteien verweist, aber ohne eine marxistische Partei wird es schwer sein, neue Strukturen hin zum Sozialismus aufzubauen.|P


[1] Die Podiumsdiskussion ist online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ykLrCoKWzJc.

[2] Wladimir I. Lenin: „Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgabe der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung“, in: W.I. Lenin-Werke (Bd. 33), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Berlin 1978, S. 46.

[3] Nikolai I. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus. Hamburg 1922, S.344.