Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache im postfeudalen Zeitalter
Platypus Review #24 | März/April 2023
Ein Gespräch mit Vlad über das Erbe der Sowjetunion in Zentralasien und daraus resultierende Herausforderungen für die kirgisische Linke
von Kathrin D.
Vlad (27) ist Mitglied der marxistischen Gruppe KyrgSoc (КыргСоц) in Bischkek, Kirgistan. Er ist dem Wiederaufbau einer lebendigen linken Tradition in der ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepublik verpflichtet.
Das Interview wurde von Kathrin D. am 30.05.2022 auf Russisch geführt und anschließend von ihr ins Deutsche übersetzt. Sie ist Mitglied der Platypus Affiliated Society. Es folgt eine editierte und gekürzte Version des Gesprächs.
Kathrin D.: Du bist Mitglied der Gruppe KyrgSoc. Wann und wie wurde sie gegründet? Wer sind ihre Mitglieder?
Vlad: Heute sind wir etwa 30 Mitglieder, vor allem in Bischkek. Unsere Gruppe gründete sich 2020 als Organisation. Wir begannen als marxistischer Lesekreis und studierten nicht ausschließlich Marx, sondern linke Theorie. Wir lasen ungefähr ein Jahr lang, beginnend mit dem Kommunistischen Manifest und im Anschluss viele russische zeitgenössische Marxisten wie Boris Kagarlitzki1 oder Alexander Tarasow. Wichtig war uns dabei, als postsowjetische Menschen postsowjetische Denker zu lesen, die uns erklären konnten, was die Linke im heutigen Sinne ist. Westliche Autoren sind hierfür nicht besonders gut geeignet, weil sie nicht unseren Kontext haben. Aber auch westliche Autoren lasen wir: Terry Eagleton, David Harvey und Autoren der Weltsystemtheorie Wallersteins, außerdem viele südamerikanische Autoren über die Probleme rückschrittlicher Staaten. Wir versuchten immer, einen Bezug zu unseren konkreten Problemen herzustellen: Kirgistan ist ein armes Land, das sich seit Jahrzehnten auf dem Abstieg befindet. Wir wählten immer einzelne Themen aus, beispielsweise die Frauenfrage oder die nationale Frage. Lenin lasen wir selbstverständlich: Staat und Revolution, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus; von Trotzki nur ausgewählte Arbeiten zu spezifischen Themen, also nicht klassischen Trotzkismus. Denn viele junge Leute kommen hier selbstverständlich zur Linken – nicht, weil sie die Sowjetunion miterlebt haben, sondern weil sie heute keine Sozialhilfe, Perspektiven oder Berufsaussichten haben. Aber der Schatten der Sowjetunion existiert fort: Auf deren Errungenschaften blickend, sind die Menschen anfangs noch nicht kritisch gegenüber der stalinistischen Propaganda – 30 Jahre nach Ende der Sowjetunion existiert hier im postsowjetischen Raum immer noch der leidliche Kampf von Stalin gegen Trotzki! Mit meinem pädagogischen Anspruch ließ ich die Leute also nicht Trotzki lesen, sondern lenkte thematisch von den 30ern und 40ern ab, bis sie mehr wussten. Zum Ende hin lasen wir eben – keine besonders ausgefeilte Liste – andere Kritiker der Sowjetunion; schließlich existierte sie auch noch nach Trotzkis Tod. Im Lesekreis verstanden die Menschen, dass die Sowjetunion besser als das heutige Kirgistan, aber auch, dass sie nicht der Kommunismus und Sozialismus im marxistischen Sinne war. Sie war also, allgemein gesprochen, nicht das Reich der Freiheit. Dennoch war sie das größte Projekt, das zum Kommunismus strebte und sein Ziel leider nicht erreichte.
Beim Lesen kann es nicht bleiben – wenn du schon Marx liest, dann solltest du wissen: Es reicht nicht, die Welt zu erklären, man muss sie verändern. Es bedarf politischer Arbeit, darum gründeten wir eine Organisation. Wir haben keine unmittelbaren Bestrebungen, auf die Politik einzuwirken, etwa zu Wahlen anzutreten oder mit politischen Parteien zu arbeiten. Unsere Hauptaufgabe ist die Popularisierung unserer Ansichten. Denn so ist die heutige Situation: Die Sprache des Marxismus, die wir beide sprechen und verstehen, ist den Menschen hier in Kirgistan unverständlich. Wir müssen einerseits große aufklärerische und propagandistische Arbeit leisten und andererseits beobachten. Wir müssen selbstständig Kirgistan studieren, Artikel schreiben, wissenschaftliche Arbeiten verfassen, Beobachtungen durchführen, die es momentan nicht gibt. Wir müssen anhand empirischer Daten zeigen, in was für einem Land wir leben, was seine Probleme sind und wie wir sie lösen können. Marxens Aufgabe widmen wir uns im Anschluss.
Wie kamst du zur Linken? Welche linken Denker beeinflussten dich?
Wir sind nicht die erste Generation, die sich offen als Linke bezeichnet und dabei Berührungspunkte mit der realen, also der links-intellektuellen Tradition, hat – nicht mit der sowjetischen, die für uns der Vergangenheit angehört. So, wie ihr im Westen eine andere, kapitalistische Vergangenheit habt, im Geschichtsunterricht über den US-amerikanischen Melting Pot, Klassenkämpfe, Reformen und die Geschichte des Neoliberalismus lernt oder wie ein einheimischer Amerikaner sich an die 50er erinnern mag: „Ich durfte meine Frau schlagen, die Neger durften nicht Bus fahren und mein Leben war schön!“ – mit so einer Nostalgie erinnert man sich hier an die Sowjetunion. Das bringt uns in eine paradoxe Situation: Selbstverständlich gibt es hier immer noch Menschen, die sich in einer sozialistisch-sowjetischen Tradition organisieren, aber die Sowjetunion war für sie intellektuell nie interessant, sondern immer etwas sehr Formales und rein Ideologisches, nach der klassischen Formel: „Früher war alles besser!“
Ich hingegen kam auf intellektuellem Weg zur Linken, lernte also erst Karl Marx kennen und wurde dann Kommunist und nicht andersherum. Und meine jungen Genossen kommen unter dem Einfluss veränderter sozialer Verhältnisse ganz natürlich zur linken Bewegung. Ich erkläre ihnen immer, dass es wichtig ist, zu verstehen, wie Linke in anderen Teilen der Welt leben. Dass die Linke eine lange und schwierige Geschichte hinter sich hat und daraus viel Unwissenheit erwächst. Das größte Vorurteil östlicher Linker ist, dass die wahren Träger des kommunistischen Bewusstseins aus der Sowjetunion stammen und es im Westen keine echten Linken gäbe, alle echten Linken zur Zeit des Kalten Krieges verschwunden seien und die heutigen keine echten Linken sind, weil sie nicht Stalin mögen, nie in der Sowjetunion gelebt haben und sich ausverkauften. Gegen diesen Mythos kämpfe ich an. Die Ziele von KyrgSoc und Platypus erscheinen also ähnlich: den Austausch zwischen Linken weltweit zu ermöglichen.
Und du erzählst den Genossen dann, dass auch Linke im Westen Stalin lieben?
Ich weiß, dass es auch im Westen eine Generation von Menschen gibt, die Nachkommen der Dritten Internationale, die die Verbindung zur Sowjetunion nie verloren haben und sich stets an ihr orientierten. Wenn wir schon über Stalin reden, ein gutes Beispiel: Hier betrachten die Menschen Stalin nicht als kommunistischen Theoretiker oder Bolschewiki mit offensichtlich linken Anschauungen. Sie sehen ihn in patriotischem Geiste als nationalen Führer, der das Land voranbrachte, den Krieg gewann – dass er Sozialist war, ist nicht so wichtig. Auch viele Linke verwechseln ihren Patriotismus mit Sozialismus. Wenn diese beiden Dinge zusammenfallen, gelangen wir in eine komplizierte Situation, die aus unserer sowjetischen Vergangenheit rührt.
Ich selbst stehe beispielhaft für die Art, wie Menschen mit intellektuellen Bestrebungen hier aufwachsen. Ich hatte immer klassisch liberale Ansichten, las Bücher, interessierte mich seit meiner Jugend für Politik. Das sind keine Themen in der Schule, aber es gibt westliche Hilfsprogramme – wenn auch nicht so erfolgreiche – und uns werden immer klassisch neoliberale Ansichten auferlegt. Alles, was man hier als vernünftiger Mensch lernen kann, ist Neoliberalismus. Nationalismus ist schließlich irrational. Später trat ich in die Philosophische Fakultät meiner Uni ein und las viel Literatur. Ich erinnere mich noch gut an einen Moment, in dem mehrere Dinge zusammenfielen: Einerseits haben die Dozierenden, auch wenn sie sich ein wenig an die Sowjetunion erinnern konnten, Marxismus ausschließlich aus einer philosophischen Perspektive gelehrt, aber dir nichts über Sozialismus beigebracht. Zweitens bemerkte ich, dass die klassische liberale, kapitalistische Dogmatik, der zufolge harte Arbeit zu einem guten Leben führe, nicht wahr ist. Ich lernte Leute kennen, auf die das überhaupt nicht zutraf – die schlausten, gebildetsten Menschen mit ähnlichen Interessen wie ich lebten sehr prekär. Darin liegt die Tragik des Zusammenbruchs der Sowjetunion: Er traf die Menschen nicht, weil sie ihr Heimatland verloren, sondern weil die Sowjetunion ihnen sehr viel gegeben und sie für ein ganz anderes Leben vorbereitet hat. Als sie sich im Kapitalismus wiederfanden, konnten sie sich aufgrund fehlender Ressourcen, Fähigkeiten und Kräfte nicht einfach anpassen. Beispielsweise bildete die Sowjetunion exzellente Ingenieure aus, die nach deren Zerfall sehr primitiven Arbeiten nachgehen mussten – ihr Bildungsniveau passte überhaupt nicht zu ihrem Lebensstandard. Drittens: Die Lektüre klassischer Literatur; an dieser Stelle empfehle ich immer allen gerne das Buch Früchte des Zorns von John Steinbeck. In dieser Geschichte über die USA der Great Depression und den Kampf der sich proletarisierenden Landbevölkerung, über die Runden zu kommen, erkannte ich viel aus meiner Lebensrealität wieder. Das motivierte meine Auseinandersetzung mit Sozialismus, der Sowjetunion als nächstes reales Beispiel für Sozialismus in der Vergangenheit und anderen linken Theorien. Nach der Universität brachte ich mir linke Theorien selbst bei, angefangen bei Philosophie, über Soziologie, Politologie und die Geschichte der linken Bewegung.
Was hat es mit den Dozierenden an der Uni und deren Vergangenheit auf sich? Sprechen sie über die Zeit der Sowjetunion, all diese Theorien und geben das Wissen weiter?
Marxismus wird hier wie gesagt als etwas Vergangenes verhandelt. Bei den Dozierenden ist das kein bewusster Marxismus, sondern etwas, was sie selbst einmal an der Uni lernen mussten: Müssen sie etwas erklären, erzählen sie manchmal, womit sie sich in ihrer Jugend rumgeschlagen haben. Manche Menschen waren bewusste Marxisten, aber sie könnten niemals an einer Universität marxistische Artikel schreiben – das kann und wird es hier nicht geben, auch weil Kirgistan ein zurückgebliebenes und peripheres Land ist. Und selbst wenn: Sie kennen vielleicht Marx, verstehen aber nicht den Marxismus. Auf den Marxismus stieß ich mehr oder minder zufällig. Immerhin blieb die Universität nach dem Zerfall der Sowjetunion.
Die Zeiten haben sich geändert. Wir sind Teil des Bologna-Systems, all unsere Bildungsprogramme werden mit der Unterstützung westlicher Institute ausgearbeitet. Übrigens sind das sehr aggressive Programme. Soweit ich das überblicken kann, tendieren Intellektuelle und Akademiker im Westen nach links; und das vermischt sich dann mit klassisch neoliberalen Bildungsprogrammen, etwa durch die entsprechenden Geldgeber der Universität. Bei uns hingegen kommt diese neoliberale Propaganda nicht einmal von der örtlichen Bourgeoisie, sondern aus dem Westen und ist daher aggressiver. Beispielhaft dafür stehen unterschiedliche westliche NGOs, etwa der George Soros Fund, der in Kirgistan seit den 90ern sehr breit aufgestellt ist, oder auch USAID. Ihre politische Aufgabe ist es, dem Neoliberalismus einen intellektuellen Ausdruck zu verleihen. Kann man bei euch an der Uni noch viele unterschiedliche politische Sichtweisen kennenlernen, dann ist bei uns alles ausschließlich neoliberal.
Wie gesagt: Unsere Linken waren nie intellektuelle, wirkliche Linke. Sie haben Marx weder gelesen noch verstanden und alles, was sie dem Neoliberalismus entgegensetzen können, ist ein primitiver Konservatismus, derselbe, auf dem Putins politische Macht basiert – er bezieht sich auf die Ukraine und die Krim, indem er beispielsweise durch Ausländerfeindlichkeit und Homophobie außenpolitisch als traditionalistisches Gegengewicht zu klassisch liberalen Werten auftritt. Unsere gesamte politische Landschaft besteht also ausschließlich aus Liberalen westlicher Art und solchen Neokonservativen.
Was ist der Unterschied zwischen einem realen marxistischen Verständnis von Sozialismus oder Kommunismus und dem der Sowjetunion?
Hier kann man von mehreren Seiten herangehen. Einerseits können wir die historische Perspektive einnehmen und von allen Möglichkeiten ausgehen, die sich nach der Revolution eröffneten: die Idee des Aufbaus eines Marktsozialismus entsprechend der Neuen Ökonomischen Politik und denen der rechten sowjetischen Opposition oder der Aufbau Jugoslawiens; oder die Industrialisierung und Kollektivierung als Alternative. Auch damals gab es diese ganzen Diskussionen, wie der Sozialismus aussehen muss. Das ist das Erste. Andererseits verstehen wir, dass das kein Sozialismus war und nicht sein konnte, weil der Sozialismus eine Veränderung der ökonomischen Formation nach sich zieht.
Ist der Sozialismus eine ökonomische Formation?
Das ist eine rein kategoriale Frage – der Sozialismus ist nicht Kapitalismus und der Kapitalismus ist eine ökonomische Formation. Selbstverständlich muss der Sozialismus einige Elemente des Kapitalismus fortführen, aber in der Sowjetunion waren es zu wenige.
Im Westen gab es Theoretiker, die die Sowjetunion, aber auch andere Staaten als autoritäre Staaten analysierten, zum Beispiel Horkheimer. Lest ihr die?
Wir lesen diese Autoren, aber auch hier gilt: Ich kann ihre Arbeiten nicht alle als fruchtbar bezeichnen, weil sich nicht alle westlichen Autoren die Sowjetunion ausreichend gut vorstellen konnten. Die Sowjetunion war sehr isoliert und es war schwer, sie zu verstehen. Ich finde zeitgenössische Arbeiten zum Thema viel interessanter, die aus heutiger Perspektive nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion analysieren, was jene politisch und ökonomisch war. So verhält es sich auch mit trotzkistischen Autoren der Vierten Internationale, die die Sowjetunion in den 60ern und 70ern als Staatskapitalismus bezeichneten: Vielleicht war die Sowjetunion Staatskapitalismus, aber sie hatten gar keine Vorstellung, wie die Sowjetunion ökonomisch funktionierte. Sie bauten Theorien, die damals aktuell waren. Für heute haben sie meines Erachtens keinen großen Wert.
Und ihr seid heute überzeugt, dass ihr mit Marxismus eure aktuelle Situation verstehen könnt?
Selbstverständlich. Mit Marxismus nicht in seiner orthodoxen Form, sondern mit linken Theorien, die enge Berührungspunkte mit dem Marxismus haben, etwa die Weltsystemtheorie, in der Ökonomie die Diskussionen zur Modern Monetary Theory, oder im Bereich der Soziologie postkoloniale oder feministische Studien. Dieser Komplex, den man als linke Theorie bezeichnet, ist für uns interessant. Die marxistische Methode und der rein philosophische Impuls, dass soziale Prozesse widersprüchlich sind, die dialektische Methode – für uns haben sie eine bestimmte Bedeutung, aber stehen längst nicht auf dem ersten Platz. Marxens Theorien lehnen wir aber auch nicht ab.
In eurem Selbstverständnis schreibt ihr, dass sich die linke Bewegung in Kirgistan aufgrund der Zerstörung des Bildungssystems und des extrem niedrigen Lebensstandards in einem postfeudalen Entwicklungsstadium befindet, Parteiaktivitäten oder Bürgerbewegungen momentan keinen Sinn ergäben und es keine marxistischen Theoretiker oder ausgeprägte linke politische Bewegungen gäbe, dass ihr euch nicht einmal in einer Rückkehr zur kapitalistischen Ära verortet, in der die ersten linken und rechten politischen Bewegungen entstanden, sondern in der späten Feudalzeit, dass an diesem Punkt nur Theorie und Wissen der Weg zur Freiheit seien.2
Was meint ihr mit der postfeudalen Phase? Was kennzeichnet die gegenwärtige Zeit besonders? Wie geht man mit Theorie ohne Praxis um? Genauer gesagt: Was ist mit marxistischer Theorie in der postfeudalen Ära anzufangen? Wozu braucht ihr sie?
Das Niveau des lokalen Bewusstseins gehört zur postfeudalen Epoche, also der Epoche vor der Französischen Revolution, in der linke und rechte Strömungen aufkamen. In der Sowjetunion gab es keinen politischen Pluralismus, keine lebendige Diskussion. Unser Land und die gesamte – einst monolithische – postsowjetische Öffentlichkeit durchlief erneut diesen Prozess des Zerfalls in Klassen, der in Europa vor der Französischen Revolution geschah. In den 90ern entstand die erste Bourgeoisie, Betriebsgründungen und Handel begannen. Es entstand wieder eine große Masse des Proletariats, das gezwungen war, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Das musste es selbstverständlich vorher auch schon, aber zu günstigeren Bedingungen mit sozialer Unterstützung. Jetzt passiert alles in kapitalistischen Verhältnissen, ohne Garantie, dass du morgen etwas zu essen, medizinische Versorgung oder Bildung hast. Wenn der gesellschaftliche Zerfall in Klassen der übliche Gang der Geschichte ist, dann gab es bei uns mit der Sowjetunion eine Art historische Fluktuation: den gescheiterten Aufbau des Sozialismus.
In vielem bleibt das Bewusstsein der Menschen sowjetisch: Sie sehen in ihrem Arbeitgeber nicht den Feind und begreifen nicht, warum sie sich Gewerkschaften anschließen sollten. Gewerkschaften assoziieren sie nur damit, dass jene in der Sowjetunion Sommerfreizeiten für Kinder organisierten, als Staat der siegreichen Arbeiterklasse brauchte die Sowjetunion schließlich keine wirklichen Gewerkschaften. Weil die Ökonomie die Ideologie vorgibt, sieht unsere Ideologie somit heute feudal aus. Die Menschen begreifen nicht: Warum sollten wir uns in links und rechts teilen? Warum können wir nicht alles zusammen machen? Warum können wir nicht einen Staat bauen, in dem es allen gut geht? Die Menschen begreifen ihre Interessen nicht: Ein Arbeiter bekommt keinen Urlaub, arbeitet 12 oder 16 Stunden am Tag, vereinigt sich nicht mit anderen Arbeitern, weil er in seinem Kopf die Formel hat, dass dies die selbstverständliche Ordnung der Dinge ist. Es existiert nicht einmal das geringste Klassenbewusstsein. Ich verstehe, dass es Klassenbewusstsein heute auch im Westen nicht mehr so gibt, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte. Dennoch wird es bei euch bewahrt: Ihr habt dezidiert linke Parteien, rechte Parteien, alle diskutieren, es gibt die Sozialdemokraten, die bekanntlich immer alle anlügen.
Ihr habt doch auch eine sozialdemokratische und eine kommunistische Partei.
Selbstverständlich. Aber bei uns erscheint das als Cargo-Kult. Als die Sowjetunion zusammenbrach, sagte man uns: „Ihr braucht ein demokratisches Mehrparteiensystem! In der Sowjetunion habt ihr schlecht gelebt, ihr hattet keine Demokratie, jetzt müsst ihr sie erstmal aufbauen!“ Darum gibt es bei uns alles: Es gibt sozialdemokratische Parteien, kommunistische, liberal-nationalistische, patriotische, konservative, alles, was du willst – aber dahinter steht überhaupt nichts als die lokale Elite und ihre finanziellen Interessen. Die Bourgeoisie, die es in der Sowjetunion nicht gab, kam im Vergleich zu den Arbeitern schnell – seit der Perestroika – zu ihrem Klassenbewusstsein.
Jetzt an die Arbeiter mit konkreten politischen Ideen heranzutreten; ihnen zu erzählen, dass wir
Marxisten oder Kommunisten sind und ihnen einen Plan vorzulegen – das ist, als würden wir mit ihnen in
einer fremden Sprache sprechen. Genau darum sprechen wir über die Notwendigkeit unserer Organisation. Zuallererst bedarf es einer Gruppe gut ausgebildeter Menschen, die die politische Situation ihres Landes sehr gut verstehen. Und zweitens bedarf es der Anstrengung für gemeinsame politische Interessen, in unserem Fall die kommunistischen, für soziale Verbesserungen. Wir müssen einen Weg finden, das an die Menschen heranzutragen.
Wir befinden uns unserem Selbstverständnis nach in einer Phase, die der Bildung von Zirkeln vorausgeht („на докружковой стадии“). Im Russischen Imperium begann die linke Bewegung mit genau solchen Zirkeln der Selbstbildung, in denen Leute Marx aus dem Ausland kennenlernten, übersetzten und diskutierten. Dann entschieden sie, dass sie genug gelernt hatten, gingen zu den Arbeitern und erzählten ihnen von Marx. Doch der arme Arbeiter hielt sie für Provokateure und verriet sie an die Polizei. Das geschah etwa 30 Jahre lang, bis die Arbeiter unter dem Druck der gesellschaftlichen Veränderungen verstanden, dass tatsächlich eine Arbeiterpartei nötig ist. Dass Lenin und Plechanow nicht einfach Besserwisser oder Provokateure waren, sondern politische Führer, denen man folgen muss. Wir befinden uns gerade in genau so einer Situation, in der wir den Leuten erklären müssen, wovon wir überhaupt reden.
Welche Faktoren führten dazu, dass die marxistischen Zirkel damals die Arbeiter überzeugten?
Einerseits handelt es sich um objektive Faktoren. Wir sprechen über das Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: 1861 wird die Leibeigenschaft aufgehoben, der Feudalismus ist beendet und die Arbeit wird frei verkauft. Das Kapital entreißt die Bauern der Erde. Genau das war die postfeudale Epoche, die in Europa schon viel früher mit den bürgerlichen Revolutionen anhob; in Holland, England und Frankreich, zeitversetzt in Deutschland, und dann erst in Russland. Nun mussten also die Arbeiter für sich selbst sorgen, sie durchliefen den Prozess der Proletarisierung und erlangten ein Klassenbewusstsein. Ihnen 1870 etwas von Marxismus zu erzählen, wäre vergeblich gewesen – sie konnten das noch gar nicht verstehen, weil sie noch keine Proletarier waren. Erst 30 Jahre später konnte die gesamte Arbeit der russischen Sozialdemokraten Früchte tragen. Davon abgesehen gibt es den subjektiven Faktor: Über diese gesamte Zeit haben die russischen Sozialdemokraten nicht nur Däumchen gedreht. Sie gingen in die Fabriken, flüchteten vor der Polizei, saßen im Gefängnis, gingen ihrer Arbeit nach – auch dort, wo sie aussichtslos erschien. Historisch trafen sich diese subjektiven und objektiven Faktoren und bewirkten, dass in Russland die sozialistische Revolution stattfand.
Und heute gibt es das Klassenbewusstsein nicht. Darum muss man den Menschen den Marxismus nahebringen. Und wie sieht es heute mit den objektiven Faktoren aus? Wie hängen sie mit dem aktuellen Postfeudalismus zusammen?
Die objektiven Faktoren sind auf unserer Seite. Wir verstehen genau, dass diese Situation nicht ewig ist, dass sie sich verändert, bereits anhand unserer Organisation. Ich beispielsweise habe mich einen großen Teil meines Lebens als Linker verstanden, seit ca. 2013, und im Laufe dieser 10 Jahre war ich mit meinen politisch-intellektuellen Interessen ganz allein. Jetzt beginnen Mitstreiter aufzutauchen, weil die jungen Menschen genau den Prozess durchlaufen, den ich durchlief, und sie durchlaufen ihn aufgrund der objektiven Verhältnisse und Gründe. Das wird sich als internationale Tendenz fortführen. Auch in der westlichen Welt entfernt uns der Neoliberalismus kontinuierlich von den sozialen Standards des 20. Jahrhunderts, vom Sozialstaat, dem goldenen Zeitalter des Kapitalismus und alldem. Jetzt tendieren die Menschen wieder nach links. Das ist ein objektiver Prozess, und bei uns verläuft er genauso. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, Däumchen zu drehen, zu denken, dass Sozialismus von selbst eintritt, sondern wir müssen Vorschläge liefern. Und so wie wir‘s können, so machen wir’s.
Wie hing die Situation des damaligen Russischen Imperiums international mit der Situation in Westeuropa zusammen? Was ist mit dem Kontext der internationalen Sozialdemokratie? Wie wirkte er auf das Selbstverständnis der russischen Sozialdemokratie ein?
Es gibt diesen Zusammenhang, aber er ist nicht sehr explizit. Die russische, sowjetische Revolution erwuchs aus der intellektuellen Bewegung. Die Arbeit, die das am besten illustriert, ist Lenins Was tun?. Darin schreibt er, dass die Arbeiter eine intellektuelle Führung brauchen – einen Kreis von Jakobinern mit ernsthafter Bildung und theoretischer Vorbereitung, die es sich leisten können, nicht 8 Stunden täglich an der Maschine zu stehen, sondern sich mit der intellektuellen Tätigkeit zum Wohle der Arbeiterklasse beschäftigen und ihre Politik durchziehen können. Ehrlich gesagt bin ich kein großer Befürworter dessen, für mich sind demokratische Elemente in der sozialistischen Bewegung bedeutend und ein großer Teil der Tragödie der Sowjetunion ist der Verlust dieser demokratischen Bewegung bereits in den frühesten Etappen. Die berühmten Diskussionen zwischen Kautsky und Lenin darüber, ob die Bolschewiki die Demokratie getötet haben und genau damit den Sozialismus verrieten, haben eine wichtige Bedeutung. Aber wenn wir uns auf konkrete historische Beispiele stützen, dann sehen wir, dass Lenin zumindest irgendetwas erreichte.
Im Großen und Ganzen ist der internationale Aspekt der russischen Revolution auffallend klein, obwohl die russischen Sozialdemokraten zur Flucht und Emigration in den Westen gezwungen wurden, sich dort in Verbindung mit der westlichen Arbeiterbewegung befanden und an ihren Diskussionen teilnahmen.
Du sprachst von einem Prozess in der Geschichte: Die postfeudale Emanzipation, die es in Europa gab und in der Sowjetunion nicht. Jetzt, da es die Sowjetunion nicht mehr gibt, wiederholt sich diese europäische Geschichte bei euch, ist das korrekt? Dann wäre meine Frage: Was lässt sich aus den europäischen Erfahrungen für euren Kontext lernen?
Ja, das ist richtig. Ich denke jedoch nicht, dass sich bei uns alles entwickelt wie in Europa – nur, dass wir jetzt ein Teil der globalen Welt werden. Wo die Sowjetunion damals isoliert war, sind wir jetzt Teil des internationalen Raums und besetzen darin unsere entsprechende Rolle. Interessanter für uns sind darum nicht die Erfahrungen Europas, also der Ersten Welt, sondern eher der Dritten Welt, des sozialistischen Kampfes in Südamerika, Asien und Afrika.
Vor der Entstehung der Sowjetunion stand das Russische Zarenreich doch auch in einem internationalen kapitalistischen Kontext. War das eine Chance oder ein Hindernis für die Revolution?
Das Russische Zarenreich war tatsächlich ein Teil des internationalen Kontextes und nahm global seinen konkreten Platz in der weltweiten Arbeitsteilung ein. Und Länder wie Kirgistan, die kleine Teile dessen und später der Sowjetunion waren, hatten sehr beschränkte Ressourcen und keine große Bevölkerung.
Es gibt keine theoretische Sprache, in der ich dieser Frage vollständig gerecht werden könnte, auch darin liegt ein Problem unserer Lage hier: Die russische Linke hat den berühmten Boris Kagarlitzki, relativ konkrete Theorien von Weltanalyse, die die Lage des riesengroßen Russlands beurteilen, das geografisch eine große Fläche einnimmt und ein wichtiger politischer Akteur ist, der es sich leisten kann, in der Ukraine Krieg zu führen. Doch russische Theoretiker können nur wenig über Länder wie unsere sagen – nicht einmal wir selbst können etwas über uns sagen. Das ist eine der Schwierigkeiten unserer Lage, weswegen wir uns neben der ganzen Propagandaarbeit und der Verbreitung sozialistischer Ideen der intellektuellen Arbeit widmen müssen, um unsere Situation zu verstehen. Davon abgesehen haben wir kaum Unis, ein sehr niedriges Bildungsniveau und kennen keine Fremdsprachen, so gerne wir sie lernen wollen. Vor uns stehen riesige intellektuelle Herausforderungen, die wir buchstäblich auf einem offenen Feld sitzend bewältigen müssen. Wir müssen diese Arbeit leisten, damit wir nicht einfach blind irgendwas machen, sondern basierend auf einer Theorie handeln.
Wie sah Kirgistan vor den Bolschewiki aus? Was machten die Kommunisten in Zentralasien? Wie sah die sowjetische Politik hinsichtlich nationaler, religiöser oder kultureller Aspekte aus? Gab es unterschiedliche Phasen während des langen Bestehens der Sowjetunion bzw. der Kirgisischen Sowjetrepublik?
Ich versuche, mich bei diesen großen Fragen kurz zu fassen. Kirgistans Territorium und Volk existierte vor der Sowjetunion noch nicht so lange. Die Kirgisen waren Nomaden, aufgeteilt in Stämme, und ihr zivilisatorisches Niveau war wie jenes der Indianer in Nordamerika. Im 18. Jahrhundert besiedelten sie ihr aktuelles Territorium in den Gebirgen Tian Shan und Pamir. Die Berge waren ein schlechter Lebensort und die Menschen lebten dort, um sich zu verstecken, weil in den Tälern große und erfolgreiche, kulturell fortgeschrittene und reiche Zivilisationen lebten. In dieser Zeit hatten die kirgisischen Stämme keine Freiheit und waren Khanaten unterworfen, also lokalen Imperien in unterschiedlichen Konfigurationen, angefangen bei Dschingis Khan oder Timur. Kirgistan war als Minderheit immer zwischen lokalen Imperien eingeklemmt und musste Abgaben zollen, um in Ruhe existieren zu können. Dann erschloss das Russische Imperium die Region – und interessant ist, dass die Kirgisen selbst um ihre Kolonisierung baten. Nicht überall nahm der russische Kolonialismus diese Gestalt an, aber in unserem Fall wurde eigenständig darum gebeten, weil die russische Kolonisierung der Duldung der Usbeken und Khane scheinbar vorzuziehen war. Das Zarenreich lehnte zunächst ab und erst 100 Jahre später – Mitte des 19. Jahrhunderts – begann die Kolonisierung. Das Russische Imperium unterwarf aus seinen geopolitischen Interessen alle lokalen Reiche im Gebiet, das an Afghanistan grenzt, und gliederte sie in das seine ein, weiter südlich kolonisierte Großbritannien. Genau in unserer Region verlief als Resultat die Grenze zwischen China, England und Russland. Die Kirgisen behielten ihre gewohnte Lebensart bei, lebten weiter in den Bergen: Im Winter gingen sie in die Täler, im Sommer in die Höhen, um ihr Vieh zu weiden – eine sehr primitive Wirtschaft, und sie hatten keine Kultur oder Bildung. Im Zuge der Kolonisierung wurden in mehreren Wellen Russen ins Gebiet eingesiedelt, darunter Russlanddeutsche und Ukrainer, die ein besseres Leben suchten, während die Kirgisen immer weiter in die Berge gedrängt wurden. Währenddessen gewann der Kapitalismus im Imperium an Kraft: Auch hier begann die Exploitation, Kirgisen wurden umgesiedelt und ihr fruchtbares Land an die Bauern oder das Kapital verkauft, es begann der Baumwollanbau in Kulturen. Diese Epoche endete damit, dass in der Zeit des Ersten Weltkrieges, den das Russische Reich zu verlieren drohte, ein Aufruf zum Militärdienst für Kirgisen herausgegeben wurde. 1916 erhob sich – kurz vor der Revolution – ein großer Aufstand, der blutig endete. Der Großteil der Kirgisen, die sehr wenige waren (etwa 300.000 Leute), floh über die Berge nach China und es gab sehr viele Tote – einen faktischen Genozid, den Irkun.
Was passierte im Moment der Revolution? Die Kirgisen selbst waren aufgrund ihres unterentwickelten Zustandes weit entfernt von aller Politik, stets hatten sich andere ihres Schicksals ermächtigt. Es gab eine kirgisische Intelligenz, doch sie war sehr klein und entstand eigentlich erst richtig mit der Sowjetmacht. Jene hatte humanistische, internationalistische Prinzipien: Die russischen Bolschewiki waren überzeugt, dass die lokale Bevölkerung sich selbst unabhängig regieren muss, mit eigener Sprache, Kultur und Territorium. Den Kirgisen war das völlig egal, sie hatten nicht mal ein Nationalbewusstsein, sondern ein spätfeudales – so wie Deutschland damals nicht Deutschland war, sondern eine Ansammlung unterschiedlicher Reiche. Jeder kirgisische Stamm verfolgte sein eigenes Interesse, und teilweise bekriegten sie einander. Es gab kein Nationalbewusstsein, weil das erst mit dem Kapitalismus kommt. Die Kirgisen lebten in vorkapitalistischen Verhältnissen, sie waren noch nicht ausreichend in diese Entwicklungen involviert und wurden erst mit dem Krieg in das System hineingezogen – vorher interessierte sich ja auch niemand für sie. Die Revolution ging hier eigentlich von den russischen Siedlern aus, die die bolschewistische Revolution unterstützten, darum siegte sie in Zentralasien so schnell. Hier gab es auch Episoden des Bürgerkriegs, aber nicht so heftige wie in Russland selbst.
Die Idee einer kirgisischen Nation und Sprache war ganz die Idee der Bolschewiki?
Absolut. Erst unter dem Einfluss der Bolschewiki wurde ein Schriftsystem entwickelt – zuvor gab es dafür keine Notwendigkeit, alles wurde mündlich überliefert, auch nationale Epen und Volksgeschichten. Der Schrift fähig waren nur religiöse Eliten, die vielleicht zwei Prozent der Bevölkerung bildeten. Die Bolschewiki, beeinflusst von den Ideen der Aufklärung, waren der Überzeugung, dass alle lesen und schreiben mussten. Gibt es keine Sprache, dann muss man eben eine erfinden. Die sowjetische Tätigkeit der 20er beschäftigte sich mit der Entwicklung eines kirgisischen Alphabets, kirgisischer Schriftlichkeit und der Niederschrift ihrer Geschichte. Die kirgisische Kultur und Nation wurden von Grund auf mithilfe der Bolschewiki gebaut, nach der klassischen leninistischen Position. Es gibt ein wunderbares Buch, The Affirmative Action Empire von Terry Martin,3 das von diesem Prozess berichtet. Die 20er waren also progressiv, aber je mehr die stalinistische Linie in der Sowjetunion wirkte, desto mehr verringerten sich die progressiven Aspekte. Anfangs war das kirgisische Alphabet übrigens lateinisch, unter Stalin wird es in die Kyrilliza konvertiert. Genauso wurde die Politik der Korenisazija verfolgt, nach der die Kirgisen selbst – anstelle russischer Siedler oder Moskauer Vertreter – über Kirgistan bestimmen müssten.
Die Korenisazija erwies sich als sehr erfolgreich, denn es entstand eine ganze Schicht einer kirgisischen Intelligenz, die Kirgistan selbst führte. Paradoxerweise wurde sie in den 30ern vollständig abgeknallt. Aber es kamen diese Leute hervor, und sie hatten vor allem auch kommunistische Ansichten, nicht einfach lokale – das waren nicht einfach Kirgisen, sondern kommunistische Kirgisen! Das heißt, allein die Herausbildung Kirgistans als Nation und all ihre Begleitprozesse, das Entstehen des Bewusstseins, das war alles kommunistisch, und die Kirgisen verdanken ihre Existenz dem Kommunismus, das ist unbestreitbar.
Und die Leute waren automatisch interessiert am Kommunismus?
Die Kirgisen verstanden, dass der sowjetische Einfluss ihnen viel Bildung gab. Außerdem war eine der ersten Handlungen der Sowjetmacht der Rückkauf derjenigen Kirgisen, die vor den Russen nach China geflüchtet waren und dort in die chinesische Sklaverei gerieten. So waren nur diejenigen gegen die Sowjetmacht, die durch jene ihre Privilegien verloren: die ehemalige Aristokratie, die feudale Elite, verschiedene Stammesköpfe. Sie organisierten unter sich die Basmachi-Aufstände, die sich der Sowjetmacht stellten, doch sie hatten keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Masse der Kirgisen unterstützte die Sowjetunion, übrigens über die ganze Periode ihrer Existenz hinweg. Selbst als sie zerfiel, stimmten in einem Referendum über 90 Prozent für den Verbleib in der Sowjetunion – im starken Gegensatz zu den baltischen Staaten. Hier liebte und liebt man die Sowjetmacht noch immer, darum steht hier in Bischkek wie in jeder kirgisischen Stadt immer noch eine Lenin-Statue, hier stürzt sie niemand wie in der Ukraine. Es gibt hier auch eine Statue für Marx und Engels.
Was geschah in den 30ern?
Das waren keine bewussten Repressionen, nicht die Boshaftigkeit Stalins, nicht ein Moskauer Beschluss, dass die Kirgisen jetzt zu selbstständig geworden waren und umgebracht und ersetzt werden sollten. Es gab einfach einen großen Terror in einem bürokratischen Apparat, in dem die Leute untereinander um Macht und Einfluss kämpften. Du willst eine hohe Position? Am einfachsten schreibst du eine Denunziation und nimmst den Platz eines Anderen ein – wie in Deutschland: Du erzählst, deine Nachbarn seien Juden und bekommst ihre Wohnung. Ein Großteil der Elite gelangte in dieses Schwungrad und wurde durch genau solche Leute ersetzt. Das waren auch Kirgisen, keine Russen, die dann hinuntergeschickt wurden. Immer noch wurde die kirgisische Sprache in den Schulen unterrichtet, es gab kirgisische Filme und die Kultur wurde weiterentwickelt.
Es gab eine verstärkte Russifizierung im Zuge des Zweiten Weltkrieges, des „Großen Vaterländischen Krieges“. Der internationalistische Staat – in einigen seiner Aspekte kosmopolitisch – begann sich zur russischen Nation hinzuorientieren, die die Sowjetunion nun definierte. Das zeigte sich in ihrem gesamten Territorium. Die russische Kultur und Bevölkerung begannen, eine größere Rolle zu spielen. Bewahrt wurden zwar nicht politische oder ökonomische, aber doch kulturelle Privilegien, wie beispielsweise das Privileg einer weißen Person, in einer sehr leichten Form. Im Übrigen veränderte sich dennoch wenig. Kirgistan blieb ein organischer Teil der Sowjetunion mit großem Bevölkerungswachstum, wuchs bis in die Millionen und die Leute lebten, arbeiteten, dienten in der sowjetischen Armee und bauten gemeinsame öffentliche Sowjetinstitutionen auf. Kirgistan war kein sowjetischer Hinterhof, sondern eine vollwertige Sowjetrepublik mit all ihren Rechten. Interessant ist diesbezüglich, dass die Kirgisen gerade während der stalinistischen Periode, 1936, vollständig ihre nationale Selbstbestimmung erhielten. War sie früher autonom, so wie die Region Karabach, wurde sie 1936 ein vollwertiges sowjetisches Subjekt, also eine eigenständige Sowjetrepublik. Genau deswegen haben die Kirgisen ihren Staat, auch wenn das ein sehr kleines Volk ist. Ohne die Sowjetmacht würden wir wahrscheinlich leben wie die Uiguren oder Kurden. Die Sowjetmacht hatte auf Kirgistan einen ausschließlich guten Einfluss.
Was bedeutete diese Statusänderung unter Stalin für das Potenzial einer Weltrevolution?
Kirgistan war auch unter Stalin nicht autonom. Die lokale Macht orientierte sich hier immer nach Moskau. Lenin legte fest, dass die Sowjetunion eine Föderation – praktisch eine Konföderation – sei. Nach Lenins Tod wurde der Kurs für die weitere Selbstständigkeit der Sowjetrepublik nicht weitergeführt, aber auch nicht verändert. Stalin hatte von Beginn an einen großen Streit mit Lenin: Ersterer war für einen einheitlichen und zentralistischen Staat, in dem es überhaupt keine Autonomie oder autonome Republiken geben sollte. Der leninistische Standpunkt setzte sich durch. Stalin änderte zwar nicht die Verfassung, aber ließ sich auch nicht von der leninistischen Position überzeugen.
Was war die leninistische Position, wie du sie verstehst?
Das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Sezession, die klassische leninistische Formel, dass die Völker der Sowjetunion selbstständig zum Sozialismus kommen müssten. Viele behaupten, das sei kein Teil von Lenins Theorie, sondern einfach Politik, weil er sich immer der Mehrheit der nationalen Minderheiten vergewissern musste, die im Russischen Imperium unterdrückt und rechtlos waren. Viele bewerten das so, aber ich denke das nicht. In den konkreten Texten Lenins und seinen politischen Handlungen finden sich außerdem sehr widersprüchliche Aussagen, die einerseits auf die nationale Autonomie zielten, aber andererseits wollte Lenin nicht, dass die Nationen vollständige Unabhängigkeit erlangten. Schließlich glaubte er an die Weltrevolution, und natürlich wäre sie nur verschoben worden, wenn die Sowjetunion kleiner ausgefallen wäre.
Du erwähntest vorhin neben dem russischen auch den britischen Kolonialismus. In Indien beispielsweise brachte das Britische Weltreich ebenfalls Fortschritt und Modernisierung. Wo liegt rückblickend der Unterschied zur Sowjetunion in Zentralasien?
Der Unterschied liegt nicht in der ökonomischen Herangehensweise, darin waren sich die Großreiche tatsächlich ähnlich. Genau darum zähle ich die Sowjetunion nicht als sozialistischen Staat. In vielen Bereichen war die Sowjetunion Dirigentin des Kapitalismus für rückständige Regionen. Aber es gab auch eine sozialistische Modernisierung, die keinen kapitalistischen Charakter hatte, auch wenn sie im Großen und Ganzen doch genau da hinkam.
Die sowjetische Herangehensweise war human und verfolgte nicht den Zweck der Abschöpfung des Mehrwerts, der Akkumulation von Kapital. Sie hatte andere, humanistische Motive, und das unterscheidet sie von anderen Kolonialmächten. Weitgehend stand dahinter ein utopisch-marxistischer Auftrag. Für die Sowjetunion war die Gründung von Baumwollanbaubetrieben in Zentralasien nicht Teil einer weitgehend wirtschaftlichen Notwendigkeit, sondern diente der Heranführung einer rückständigen Bevölkerung an die Arbeit und Zivilisation. Du hast wahrscheinlich schon von der Erschließung jungfräulicher Böden gehört, als man begann, die kasachische Steppe mit Getreide zu bepflanzen. Unter Chruschtschow wurde viel Aufwand darauf verwendet, aber das war absolut nicht rentabel, denn Getreide wuchs viel besser in der Ukraine oder in Russland selbst. Das machte man nur, damit die kasachische Bevölkerung zur Sesshaftigkeit überging. Das Gleiche sehen wir auch in Kirgistan. Unsere Republiken waren nie ökonomisch rentabel, die Wirtschaft hier wurde immer subventioniert. Auf der einen Seite ist es eine reine wirtschaftliche Folge ungleichmäßiger Entwicklung, was uns wieder auf das Studium der Weltsystemtheorie verweist. Aber die Sowjetunion bemühte sich immer, diese nicht auszunutzen. Das sieht nicht nach klassischem Kolonialismus aus.
Warum erbte Kirgistan trotz allem ein postfeudales Bewusstsein von der Sowjetunion?
Der politische Status quo der Sowjetunion ist schwer zu beurteilen. Was war das allgemeine politische Bewusstsein eines Sowjetmenschen? Wer – im politischen Sinne – war der Sowjetmensch? Die UdSSR war kein Staat mit kapitalistischem Klassensystem, sondern ein zum Sozialismus strebender Staat. Die politischen Kategorien links und rechts beziehen sich auf die Opposition der Klassen in der Gesellschaft, die es in der sowjetischen nicht gab. Darin liegt ihre historische Besonderheit. Darum fällt es mir schwer, eine gerade Linie zu legen und einen klassischen kategorialen politologischen Apparat zu verwenden, um das zu beurteilen, was in der Sowjetunion war.
Warum hat es nicht funktioniert? Es gab keine Weltrevolution…
Ohne eine abschließende Antwort zu geben, tendiere ich dazu, die Antwort auf diese Frage in der Rückständigkeit der Produktivkräfte in der konkreten Sowjetunion zu suchen, die zum Großteil ihrer Geschichte ein rückständiger Staat war. Hervorgegangen aus den Ruinen des rückständigen Russischen Imperiums, das nicht den gleichen Stand der Produktivkräfte hatte wie der Westen, holte sie lange zielstrebig den Westen praktisch auf. Sie schickten den Menschen ins All und damit wurde der technische Fortschritt in der Sowjetunion vorerst aufgrund ihrer politischen Unvollkommenheit abgeschlossen. Die Freiheit der Diskussion und die Arbeiterdemokratie wurden zerstört, die in der späten UdSSR jene in ihrem konservativen Wesen nach vorne hätten ziehen können. Die öffentlichen Beziehungen waren rückständig und im Kern nicht sozialistisch, darum war die Sowjetunion ihrer Niederlage geweiht. Betrachtet man jedoch die gesamte Geschichte, denke ich nicht, dass die Geschichte der Sowjetunion eine Niederlage war. Wenn wir die Sowjetunion mit fortgeschrittenen Ländern vergleichen – mit den USA, mit Europa –, kann man absolut sagen: Manchmal war der Westen erfolgreicher. Aber wenn wir sie mit dem ganzen Rest der Welt vergleichen, dann erreichte sie atemberaubende Errungenschaften gegen die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, mit großem Streben zum Sozialismus, zur sozialen Gerechtigkeit – das darf nicht in Vergessenheit geraten.
Einige eurer Artikel zielen darauf ab, dieses Erbe für die Zukunft produktiv zu machen. Was konstituiert es und wie kann man es produktiv machen?
Unabhängig davon, ob die Sowjetunion ein gescheitertes historisches Projekt ist, bestimmte die Sowjetunion tatsächlich die Form des 20. Jahrhunderts. Auch Historiker verorten den Beginn des 20. Jahrhunderts 1917 und sein Ende 1991. Der Einfluss der Sowjetunion ist maßgebend für unsere jüngere Geschichte, sie hatte einen Einfluss auf die ganze restliche Welt. Die westlichen Länder machten aus Angst vor der Revolution Zugeständnisse an die Arbeiterklasse. Gleichzeitig provozierte das Streben der Sowjetunion nach Fortschritt den allgemeinen technischen Fortschritt. Warum strebte der Sowjetmensch unter Verschwendung großer Geldsummen zum Kosmos? Die Eroberung des Kosmos hätte sich im Maßstab eines nationalen Projekts im Westen nicht vollziehen können. Im lokalen Maßstab habe ich auch schon erzählt, was für eine große Rolle die Sowjetunion für die kleinen Völker spielte, etwa für die Kirgisen und Kasachen. Menschen wurden aus der Rückständigkeit in die Moderne geführt, nicht wie die Inder und Indianer durch Hunger oder Massenmord und Ausbeutung, sondern durch einen geraden Gang. Darum stehe ich auch unterschiedlichen postkolonialen Studien nicht nahe, die den Fortschritt kritisieren und behaupten, dass primitive Lebensweisen, lokale Traditionen und Praktiken erhaltenswert seien. Lebt man in New York oder Berlin, mag das interessant sein, aber hier ist das letzte, was man will, in so einer rückschrittlichen Gesellschaft zu leben. Daran ist nichts Gutes.
Was bedeuten für euch die Proteste in Kasachstan zu Beginn des Jahres 2022? Wie verhaltet ihr euch zu der Invasion Russlands und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit? Wie schätzt ihr die bewaffneten Konflikte beispielsweise um das Trinkwasser an den Grenzen Kirgistans und Tadschikistans ein oder die Konflikte in Bergkarabach und die russische Rolle darin? Ihr unterstreicht als Gruppe die Notwendigkeit eines internationalistischen Kampfes – ist die geteilte sowjetische Vergangenheit Russlands und all der kleineren ehemaligen Sowjetstaaten hierfür eine Chance oder ein Hindernis?
Die Ereignisse in Kasachstan haben uns wenig interessiert, denn Staatsstreiche und politische Unruhen sind für Zentralasien nichts Neues, vor allem nicht für Kirgistan. Und jetzt ist eben Kasachstan dran. Klar gibt es einige Unterschiede, aber eigentlich ist alles relativ ähnlich, es gibt daran nichts Wichtiges oder Bedeutendes. Russland zählen wir absolut als imperialistisch. Aber im Karabach-Konflikt sehe ich überhaupt keinen großen Einfluss Russlands, dieser Konflikt lohnt sich auch für Russland nicht. Das ist ein historischer Regionalkonflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, wie der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich um Elsass-Lothringen. In der Ukraine hingegen verfolgt Russland imperialistische Interessen. Für den ganzen postsowjetischen Raum wirkt Russland als primärer imperialistischer Hegemon, der sich direkt und ökonomisch auf unser Leben auswirkt. Wir sind eingespannt in einen russischen kapitalistischen Mikrokosmos, der wiederum seine eigene Rolle im globalen Maßstab spielt. Auf unserer Homepage und unseren Accounts in den sozialen Medien haben wir dazu viele Materialien.
Kann uns unser gemeinsamer kultureller Hintergrund im postsowjetischen Raum in Zukunft helfen, uns irgendwann erneut zu vereinen, um einen sozialistischen Kampf zu führen? Hier müssen wir marxistisch rangehen, dialektisch. Einerseits ist da der große imperialistische Einfluss Russlands, das kulturell immer an die sowjetische Vergangenheit appelliert: „Warum müssen wir russisches Kapital lieben? Weil wir früher ein Land waren!“ Von dieser Seite aus betrachtet ist es schlecht, denn es schadet unseren nationalen Märkten und jagt uns in eine größere Abhängigkeit von Russland. Wo die Sowjetunion früher mit uns teilte, uns teilweise sogar mehr gab, da teilt Russland überhaupt nicht – nur geben wir migrantische Arbeitskräfte, alle Waren, die wir kaufen, sind russische, unser Öl ist russisches Öl.
Es gibt aber auch positive Elemente, nämlich die postsowjetische kulturelle Öffentlichkeit, die sich immer noch mehr oder weniger als einen gemeinsamen Raum versteht. Wenn sich in Europa ein Kirgise und ein Russe treffen, dann verstehen sie einander perfekt, in einer gemeinsamen Sprache, dem Russischen, sie werden den kulturellen Kontext verstehen, auch wenn sie schon nach dem Ende der Sowjetunion geboren sind. Wenn wir für die Zukunft annehmen, dass linke Massenbewegungen entstehen, kann es seine Rolle spielen, dass die Region als Ganze zum Sozialismus strebt. Dann hätte sie das, was Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht hatte. In der Zeit des Ersten Weltkriegs wurden alle in unterschiedliche Ecken getrieben, was die Zweite Internationale zerstörte und alle Staaten vereinzelt dazu zwang, zum Sozialismus zu streben. Für mich ist da ein Vergleich mit der Europäischen Union naheliegend: Wenn sie irgendeine positive Rolle spielen kann, dann die, dass Leute aus dem europäischen Raum irgendwann in ferner Zukunft ineinander nicht ökonomische Feinde sehen werden, sondern endlich mal einen Schritt zu einem sozialistischen Staat machen – wenngleich festzuhalten ist, dass die EU momentan im ökonomischen Sinne eine absolut barbarische Struktur ist. Genau so ist das bei uns.
Was ist angesichts alldem die Aufgabe für Linke in Kirgistan und Zentralasien? Wie verhält sich das zur internationalen Lage der Linken? Was wäre die Aufgabe einer Partei, wie würde sie zu den sozialen Bewegungen und den Arbeitern stehen? Seht ihr noch ein Potenzial für die Errichtung einer unabhängigen sozialistischen Partei?
Darüber habe ich schon viel erzählt. Wir sind überzeugt, dass das Wichtigste jetzt die Arbeit an der Theorie und die Popularisierung unserer Ansichten unter den Leuten ist. Wir schätzen unsere Kräfte adäquat ein und können uns nicht darauf verlassen, dass wir Unterstützung erhalten – weder von Linken aus Russland noch aus Europa –, denn ehrlich gesagt haben wir euch nichts mitzuteilen. Wir müssen uns mit dem beschäftigen, was hier passiert, das ist eine unausweichliche Notwendigkeit. Bezüglich der Rolle der Arbeiterklasse weichen wir nicht vom klassischen Marxismus ab. Wir glauben nicht, dass das Proletariat sein fortschrittliches Wesen eingebüßt hat. Das stimmt mit dem überein, was wir überall auf der Welt sehen, und die ganze Welt schlägt sich damit rum: Angefangen 1968, als die Linke im Roten Mai herausstellte, dass die Arbeiter vermeintlich ihre Freiheit eintauschten und nicht mehr für den Sozialismus kämpfen wollten, dass ihnen Urlaub und ein Achtstundentag reichen. Uns erscheint das als vorübergehende Konfiguration. Der Neoliberalismus treibt die Arbeiter erneut unumgänglich nach links. Die Arbeiterklasse wird ihre Lektionen lernen und sich nicht mehr auf Vereinbarungen mit der Bourgeoisie und den Sozialdemokraten einlassen, sondern zunehmend radikaler und kommunistischer aufgebaut sein. Genau diese Hoffnung haben wir auch für die kirgisische Arbeiterklasse, die sehr unterdrückt ist und in einem furchtbaren Zustand lebt.
Laut eurer Homepage stellt für euch unter anderem Chile ein Exempel für den Kampf gegen den Neoliberalismus dar. Nach der Wahl Gabriel Borics von der Partei Convergencia Social verlor die soziale Bewegung ihre Stärke und beschränkt sich auf reinen Reformismus. Wie beurteilst du das? Und wie hängen Neoliberalismus und Marxismus zusammen?
Ich achte nicht besonders auf das, was in Chile passiert. Aber die Verbindung von Marxismus und Neoliberalismus ist für mich sehr offensichtlich. Wir leben in einer Welt mit einer globalen Ökonomie, so wie Marx damals in einer Zeit der nationalen Ökonomie lebte. Es ist der Neoliberalismus, der als ideologischer Verfechter dieser globalen Ökonomie auf allen Ebenen wirkt. Darum sollten wir den Liberalismus entlarven und Werkzeuge erfinden, die ihm überall widerstehen können. Hierfür hat sich die Situation erschwert, denn befand sich die Arbeiterklasse früher geografisch auf einem Fleck, dann sieht es heute so aus: Ich lebe zwar in Kirgistan, aber die kirgisische Arbeiterklasse – fast eine Million Arbeiter bei nur 6 Millionen Einwohnern – arbeitet in Russland. Die Leute wachsen hier auf und verlassen dann das Land, um Gastarbeiter zu werden und uns Geld zu schicken, von dem wir hier leben. Das ist eine vollwertige Arbeiterklasse, die uns erhält. Eine einfache Frage für mich als Marxisten: Wer wird die Revolution machen? Diese Arbeiter sind sehr erniedrigt, rechtlos und sehr wütend, aber sie können paradoxerweise gar nicht im politischen Sinne Kirgistan dienen. Ohne ein Verständnis von Neoliberalismus und seiner Funktionsweise werde ich mich nie an die Frage annähern können, wie man eine Revolution anstößt. Wie wird Kirgistan, das stark verschuldet ist – nicht so sehr wie Griechenland, aber doch beachtlich – in der ökonomischen Realität existieren? Wie soll man in solchen Verhältnissen seine eigene Ökonomie weiterentwickeln? Warum fährt unsere Arbeiterklasse nach Russland? Weil es hier keine Arbeitsplätze gibt. Was können wir tun, damit es hier Arbeitsplätze gibt? Das ist auch eine Frage der Kritik am Neoliberalismus und des Kampfes dagegen. Und darum ist für Dritte-Welt-Länder diese Verbindung zwischen Marxismus und Neoliberalismus die allerdirekteste.
Noch eine letzte Frage: Was wollt ihr mit eurem Projekt in den nächsten zehn Jahren erreichen?
Wollen wir nicht in einen unangebrachten Optimismus verfallen und sagen, in zehn Jahren wollen wir die Revolution, dann wollen wir in zehn Jahren in Kirgistan eine echte, lebendige linke Tradition sehen. Jetzt fühlen wir uns buchstäblich fremd in der kirgisischen Gesellschaft, in vielen Bereichen aus ihr herausfallend, ohne Möglichkeiten, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ich habe den Eindruck, dass, wenn ich meinen Einfluss fallen lasse und ein Weiterer aufhört, Artikel zu schreiben oder Veranstaltungen durchzuführen, dann wird es keine linke Bewegung in Kirgistan geben. Sie wird einfach in sich zusammenfallen und die Menschen werden sich mit etwas anderem beschäftigen. Wir wollen, dass unsere Bewegung organisch wird, dass ständig Leute hinzukommen und dass dieser intellektuelle Prozess nie ein Ende findet. Solche bescheidenen Ziele haben wir. |P
1 Für Beiträge Kagarlitzkis, die in der englischsprachigen Platypus Review erschienen sind, siehe: https://platypus1917.org/category/platypus-review-authors/boris-kagarlitsky-platypus-review-authors/.
2 KyrgSoc: „Anti-Universität” (АНТИУНИВЕРСИТЕТ), online abrufbar unter: https://kyrgsoc.org/anti-universitet/.
3 Terry Martin: The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. New York 2001.