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Hegels Dialektik: Nichtidentität, Widerspruch und Freiheit

Platypus Review #24 | März/April 2023

von Omair Hussain

Dem abschreckenden Versuch, Hegel zu verstehen, drängt sich wohl als erstes die Frage auf: Was ist die hegelsche Dialektik? Ich könnte diese mit einer Phrase definieren als „die wechselseitige Durchdringung von Gegensätzen“. Aber eine solche Definition wäre wohl wenig erhellend. Nach Adornos scharfsinnigem Einwand entzieht sich die Dialektik jeglicher Definition und lässt sich eher demonstrieren als definieren. Vielleicht ist es fruchtbarer, wenn auch weniger direkt, sich dem Gegenstand über eine andere Frage zu nähern: Nicht nach dem „Was?“, sondern nach dem „Warum?“ der Dialektik für Hegel. Wenn wir uns darauf einlassen, dass es Hegel nicht darum ging, besonders ausgefallen und mystisch zu wirken, stellt sich die Frage, warum Hegel Dialektik für notwendig befand. Meine zentrale These ist, dass Hegel seine Dialektik als notwendig erachtet, weil er versucht, auf adäquatere Weise einen Gegenstand aufzufassen, der selbst in einem Veränderungs- und Transformationsprozess begriffen ist. Auf den tiefgreifenden Charakter dieser Veränderung – wie sich das Objekt verändert – komme ich zurück.

Um ein möglichst umfassendes Bild zu zeichnen: Wenn Philosophie seit jeher damit befasst war, die Wirklichkeit in ihrer Wahrheit zu erfassen, so wurde vor Kant und Hegel – und, noch wichtiger: vor der Entwicklung der modernen, bürgerlichen Gesellschaft – diese Wahrheit als ewig während, wesentlich statisch und unveränderlich begriffen. Platon räumt ein, dass die Welt der Sinne sich im Fluss befindet, wahrhaftige Wirklichkeit aber liegt für Platon in der unveränderlichen Welt der Ideen, die von einer unveränderlichen Vernunft begriffen werden. Für Platon ist das Wahre gerade deshalb wahr, weil sowohl es selbst als auch unsere Fähigkeit, es durch Vernunft zu verstehen, unveränderlich sind. Dies ist die wesentliche Eigenschaft traditioneller, vorkritischer Philosophie: die Annahme einer statischen, unveränderlichen, ewigen Wahrheit. Der Hegelforscher Robert Pippin definiert traditionelle Metaphysik als „a priorisches Wissen der Substanz“.1 Warum ist es möglich, die Wahrheit a priori zu erkennen? Weil sich in der traditionellen Philosophie weder die Wahrheit noch unsere Fähigkeit, sie zu erkennen, verändert.

Was würde es für die Wahrheit und die Fähigkeit der Vernunft, sie zu erfassen, bedeuten, wenn sie transformierbar und der Veränderung unterworfen wäre? Diese Frage ist wichtig, weil sie – wie ich zu zeigen hoffe – den Kern dessen ausmacht, warum Hegel die Dialektik für notwendig hielt. Um ihr nachzugehen, erlaube ich mir zunächst eine grobe und vielleicht irreführende Parabel anzuführen, die ich später erhellen werde. Ich greife dazu auf ein Beispiel zurück, das Hegel am Beginn der Phänomenologie des Geistes gibt. Stellen wir uns vor, wir hätten noch nie ein Samenkorn gesehen und eines Tages finden wir eines auf dem Boden liegen. Was würde es bedeuten, die Wahrheit des Samens philosophisch zu erfassen? Wir könnten sofort theoretische, praktische und ästhetische Urteile über den vorliegenden Gegenstand treffen. Wir könnten uns fragen, was dieser Gegenstand ist, woher er kommt und was sein Zweck ist. Wir könnten seine Größe, Farbe und Form schön oder hässlich finden. Nehmen wir an, wir kämen nach einigen Überlegungen schließlich zu befriedigenden Antworten und ließen den Samen eine Zeit lang allein, um später für weitere Untersuchungen zu ihm zurückzukehren. Zu unserem Entsetzen wird sich der Samen in eine Knospe verwandelt haben. Wir müssten nicht nur einen neuen Gegenstand neu beurteilen, sondern auch erklären, wie der Samen, den wir auf eine bestimmte Weise verstanden hatten, zu der neuen mysteriösen Knospe in Beziehung steht, was eine völlig neue Reihe von Urteilen zu erfordern scheint. Wir müssten uns damit auseinandersetzen, dass die Transformation des Samens zu einer Knospe nicht nur eine quantitative Veränderung ist, nicht nur eine Zu- oder Abnahme an „Samenhaftigkeit“, sondern ein radikaler qualitativer Wandel, der nicht nur eine neue Reihe von Urteilen, sondern grundsätzlich neue Kriterien für Urteile über den Gegenstand erfordern würde. Der Gegenstand hat sich auf eine Weise verändert, dass die Knospe die grundlegenden Bedingungen infrage stellt, unter denen wir den Samen als Samen verstanden hatten. Dadurch, dass er zur Knospe wurde, hat der Gegenstand seinen Zustand als Samen, also sich selbst, und zugleich die auf ihn angewandten Beurteilungskriterien negiert. Der Samen musste sich selbst negieren, um seiner Bestimmung gerecht zu werden. Und wir können nur entmutigt mit den Schultern zucken, weil sich alles, was wir für wahr hielten, als falsch herausgestellt hat und wir es gegenüber der neuen Wahrheit, die der Samen nun offenbart, negieren und verändern müssen. Da wir uns der Wahrheitssuche verschrieben haben, vollziehen wir diese Negation und entwickeln ein neues System, um die Knospe zu verstehen, zuversichtlich, den veränderten Gegenstand nun adäquat erfassen zu können. Einige Wochen später kehren wir zur Knospe zurück, um unsere neue philosophische Apparatur zu prüfen. Erneut trifft uns der Schreck: Die Knospe ist jetzt eine blühende Rose. Wir müssen den gleichen schmerzhaften Prozess durchmachen und unser Konzept der Wahrheit verändern, um den Ansprüchen der erneuten Transformation des Gegenstandes gerecht zu werden. Aber diesmal hat sich noch etwas anderes in Bezug auf unsere früheren Auffassungen und die früheren Zustände des Gegenstandes offenbart: Ihre Bedeutung hat sich verändert. Was als unversöhnlicher Antagonismus erschien – die Wahrheit des Samens gegenüber der diese negierenden Wahrheit der Knospe – zeigt sich als verschiedene Momente desselben Prozesses, dessen Resultat nun vor uns liegt. Es stellt sich heraus, dass trotz der Art und Weise, wie die Situation früher erschien, zwei Dinge, die einander entgegengesetzt zu sein schienen (das Samenkorn und die Knospe), ihren Widerspruch aufgelöst haben, sodass wir sie nun als miteinander verbundene Momente in einem Prozess der Veränderung begreifen können. Damit der Samen das werden konnte, was er in Wahrheit ist, musste er sich zuerst selbst negieren und dann diese Negation als Moment eines Prozesses – um die hegelsche Terminologie zu verwenden – aufheben, der zu seiner wahren Bestimmung, einer höheren Form führte: der blühenden Rose.

Blühende Rundbögen in Giverny (1913), Claude Monet

Dieses Gleichnis ist höchst irreführend, wenn es als buchstäbliches Beispiel hegelscher Dialektik verstanden wird. (Ich beabsichtige hier nicht in eine Diskussion über die „Dialektik der Natur“ zu geraten). Der zentrale Grund für den irreführenden Charakter dieses Gleichnisses liegt darin, dass ein Samen sich nicht durch seine eigene Reflexion und seine eigene Tätigkeit transformiert, sondern sich gemäß den Naturgesetzen verändert. Ein Samen ist sich seiner selbst nicht bewusst. Ein Samen ist nicht frei. Der Gegenstand von Hegels Philosophie – das, was er zu erfassen suchte – waren nicht die bewusstlosen und automatischen Veränderungen, die sich in der toten Natur vollzogen haben, sondern die Freiheit in Geschichte, Veränderung, die ein selbstbestimmtes Subjekt durch den Gebrauch der Vernunft betreibt. Freiheit war für Hegel der Prozess, in dem sich das Subjekt und das Objekt der Erkenntnis wechselseitig konstituieren und verändern. Diese dialektische Beziehung ist der Vollzug einer spekulativen Identität in Geschichte. Die Veränderung, die Hegel zu erfassen versuchte, war weder willkürlich noch vorherbestimmt. Es ist eine Bewegung, deren Inhalt selbst das Subjekt ist, das zum Bewusstsein seiner selbst kommt, indem es erkennt, dass es das Objekt, das es ursprünglich zu erkennen sucht, dadurch verändert und dass dieses Objekt wiederum seine eigene Realität bedingt. Freiheit ist die Realisierung der Veränderbarkeit der Umstände, die uns formen, und damit das Potenzial, uns selbst zu verändern. Diesen Prozess versuchte Hegels Philosophie auf den Begriff zu bringen.

Der Zweck dieser dĂĽrftigen Parabel liegt darin, die Tiefe der Aufgabe zu veranschaulichen, die sich Hegel stellte. Wie kann man an der Idee der Wahrheit festhalten, wenn man gleichzeitig die Wahrheit
als einen Transformationsprozess begreift, in dem das, was wahr ist, erst durch die Negation und Veränderung seiner eigenen Bedingungen wahr wird? Wie kann man an der Existenz der Wahrheit festhalten und sie gleichzeitig als eine Bewegung der Selbsttransformation verstehen, in der die Wahrheit sich durch die Negation und Überwindung ihrer eigenen Existenz als Wahrheit verwirklicht. Ich ziele – vielleicht offensichtlicherweise – auf den Aspekt des Widerspruchs. Der Widerspruch macht die Veränderung, die Hegel auf den Begriff zu bringen versucht, zugleich notwendig und ermöglicht sie. Freiheit vollzieht sich durch den Widerspruch hindurch. Das, was existiert, ist insofern selbstwidersprüchlich, als seine Existenz die Möglichkeit für Veränderung ausdrückt, die nur durch die Negation dieser Existenz verwirklicht werden kann. Hegel braucht die Dialektik, um den Prozess der Veränderung begreifen zu können, der durch den Widerspruch angetrieben wird.

Eine Form, in der Hegel Dialektik gebraucht, um dieses komplizierte Problem zu behandeln, liegt in der Anwendung dessen, was er den „spekulativen Satz“ nennt. Hegel wird häufig – undialektisch – insofern falsch verstanden, als seine spekulativen Sätze als gewöhnliche Sätze aufgefasst werden. In einem gewöhnlichen Satz wird eine Identität zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des Satzes ausgesagt. Beschäftigen wir uns mit einem der am häufigsten missverstandenen Sätze Hegels, um diesen Umstand genauer zu veranschaulichen: „Das Wirkliche ist vernünftig.“ Wenn das ein gewöhnlicher Satz wäre, so beanspruchte er eine Identität zwischen dem Subjekt des Satzes, „das Wirkliche“ und seinem Prädikat, „ist vernünftig“. Sprich: Wenn es sich um einen gewöhnlichen Satz handelte, bedeutete er das, was viele schlechte Hegel-Interpreten aus ihm herauslesen, nämlich dass alles, was existiert, „das Wirkliche“, lediglich aufgrund der Tatsache, dass es existiert, stets identisch mit der Vernunft sei. So wird Hegel als konservativer Denker missverstanden. Er wird irrtümlicherweise gelesen, als verstehe er alles, was existiert, als ewig vernünftig und daher wird Hegel vorgeworfen, er rechtfertige und verteidige lediglich den Status quo und stelle statische und unveränderliche Aussagen über ewige Wahrheiten auf. Hegels dialektische Aussage wird als traditionelle, metaphysische Aussage gelesen. Ich würde behaupten, dass uns jeder gewöhnliche Satz in die Welt der traditionellen Philosophie zurückversetzt, da der Charakter des Satzes eine zeitlose Wahrheit, eine unveränderliche Identität zwischen Subjekt und Prädikat anzunehmen scheint. Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und – wie Chris Cutrone in unveröffentlichten Ausführungen konstatierte – behaupten, dass das Wesen gewöhnlicher Logik und Sprache in die Welt der traditionellen Philosophie und traditionellen Metaphysik zu gehören scheint, da gewöhnliche Sprache und Logik darauf ausgerichtet zu sein scheinen, Aussagen über eine statische, unveränderliche, ewige Wirklichkeit und Wahrheit aufzustellen. Die Herausforderung, mit der Hegel konfrontiert ist, besteht also darin, Logik und Sprache – Instrumente, die historisch dazu verwendet wurden, um Behauptungen über ewige Wahrheiten aufzustellen – zu gebrauchen, um über Wahrheit als Prozess des Wandels und der Transformation zu sprechen. Er verwirft diese Instrumente nicht, da keine anderen existieren, aber er ist dazu gezwungen, sie auf eine radikal neue und andere Art und Weise anzuwenden. Das ist einer der Gründe, warum es schwierig zu sein scheint, Hegel zu lesen und zu begreifen.

Der spekulative Satz ist Hegels Art, Logik und Sprache zu nutzen, um Wahrheit als transformativen Prozess zu adressieren. Wenn ein gewöhnlicher Satz eine einfache und statische Identität von Subjekt und Prädikat behauptet, wird er für Hegel tautologisch. Etwas ist wahr einfach durch den Fakt, dass es wahr ist. Wie kann ein gewöhnlicher Satz mehr sein als einfach nur tautologisch, mehr als die Behauptung von Identität, die bereits als Identität vorausgesetzt wird? Was fügt ein gewöhnlicher Satz hinzu, wenn das, was als wahr behauptet wird, wahr ist, weil es wahr ist? Hegels radikaler Schritt liegt darin, die Weise, wie wir über einen gewöhnlichen Satz nachdenken, umzudeuten. Wenn ein gewöhnlicher Satz die Identität von Subjekt und Prädikat behauptet und wenn diese mehr als eine Tautologie sein soll, nämlich eine Neuformulierung von etwas, das offensichtlich und bekannt ist, dann ist Hegels Behauptung: Die Identität, die ein gewöhnlicher Satz aussagt, ist ebenso Ausdruck von Nichtidentität. Wenn wir annehmen, dass das Wirkliche vernünftig ist, dann muss das auch bedeuten, dass das Wirkliche nicht vernünftig ist – warum müssten wir sonst ihre Gleichsetzung in einem Satz behaupten? Hegel entwickelt den spekulativen Satz aus dem Widerspruch, den er in gewöhnlichen Sätzen erkennt. Im spekulativen Satz ist die behauptete Identität zwischen Subjekt und Prädikat gleichzeitig die Behauptung ihrer Nichtidentität. „Das Wirkliche ist vernünftig“ ist ein spekulativer Satz. Die Aussage, die Hegel tätigt, ist, dass das Wirkliche vernünftig ist, gerade weil das Wirkliche ebenso nicht vernünftig ist. Für die gewöhnliche Logik ist diese Aussage ein unsinniger Widerspruch. Aber wenn wir die Wahrheit als einen Prozess von Transformation durch den Widerspruch hindurch verstehen, können wir möglicherweise besser begreifen, was Hegel meint. Wenn Vernunft kein statischer Zustand ist, sondern ein Prozess des Werdens, dann meint „Das Wirkliche ist vernünftig“: Das Wirkliche muss – durch die Anerkennung des Umstandes, dass das Wirkliche, so wie es existiert, gleichzeitig nicht vernünftig ist – vernünftig werden. Die widersprüchlichen Aussagen, die gleichzeitige Identität und Nichtidentität von Subjekt und Prädikat, sind Momente im Prozess des Werdens. Das Wirkliche ist vernünftig, weil sowohl das Wirkliche als auch die Vernunft Teil der Bewegung von Freiheit sind, die durch die gegenseitige Negation des Wirklichen und der Vernunft angetrieben wird, um ebenso das Wirkliche wie die Vernunft zu realisieren. Das Wirkliche muss durch die Negation und Transformation sowohl der Wirklichkeit als auch der Vernunft vernünftig werden. Der spekulative Satz ist ein Versuch, den durch den Widerspruch angetriebenen Prozess von Transformation zu begreifen.

Wenn Hegels dialektische Philosophie eine radikale Transformation des traditionellen philosophischen Verständnisses von Wahrheit ist, dann stellt sich die Frage, wie und warum diese Transformation geschah. Wie sind wir von Platons ewigem Reich der Ideen zu Hegels These gelangt, dass „Philosophie ihre eigene Zeit in Gedanken erfasst“ sei? Was sind die historischen Bedingungen der Möglichkeit für Hegels Verständnis von Wahrheit als historisch? In der Nachfolge Kants ist Hegel bestrebt, kritisch zu sein – kritisch im kantischen Sinne, sich selbst über die eigenen Bedingungen der Möglichkeit bewusst zu sein. Hegel begreift Wahrheit nicht nur als historisch, sondern erkennt auch selbstreflexiv, dass sein eigenes Verständnis der Wahrheit als historisch auf seinem eigenen historischen Moment beruht und Ausdruck dessen ist. Hegel versteht seine Philosophie und sein Verständnis von Wahrheit historisch als expliziten Ausdruck der bürgerlichen Revolution, der weltgeschichtlichen Transformation von feudaler Knechtschaft hin zu einer Gesellschaft, die durch freie Lohnarbeit vermittelt ist. Hegels Philosophie, und besonders die Phänomenologie des Geistes, ist eine retrospektive Darstellung dieses bürgerlichen Bewusstseins, des historisch sich entfaltenden Bewusstseins der Geschichte als Geschichte von Freiheit.

Hegels Beschreibung der Entstehung dieses bürgerlichen Bewusstseins ist in ein Gleichnis aus der Phänomenologie eingebettet, das gemeinhin als die Herr-Knecht-Dialektik bekannt ist. Diese Bezeichnung ist aus Gründen irreführend, die mit der Art und Weise in Verbindung stehen, wie dieses Gleichnis häufig missverstanden wird. Ich würde – vielleicht polemisch – behaupten, dass die Wichtigkeit der Herr-Knecht-Dialektik nicht darin liegt, dass es sich um eine Dialektik zwischen Herr und Knecht handelt. Es handelt sich nicht um eine Beschreibung einer intersubjektiven Dialektik, sondern um eine Beschreibung der Entstehung der Subjekt-Objekt-Dialektik. Für Hegel würde eine intersubjektive Dialektik die gegenseitige Anerkennung von Selbstbewusstsein durch zwei freie, sich selbst bewusste Subjekte erfordern. Das Argument besteht darin, dass der Knecht als Knecht nicht in der Lage ist, den Herrn anzuerkennen, da der Herr den Knecht nicht als freies, sich selbst bewusstes Subjekt anerkennt. In der Abwesenheit von gegenseitiger, sich selbst bewusster Anerkennung der Freiheit und des Selbstbewusstseins des Anderen sind folglich weder der Knecht noch der Herr Subjekte. Das wirkliche Argument der Herr-Knecht-Dialektik besteht in der Dialektik zwischen dem Knecht und sich selbst. Der Knecht, ein unfreies, subjektloses Wesen, ist dazu gezwungen, für seinen Herrn zu arbeiten. Durch seine Arbeit gestaltet der Knecht die Natur um. Durch die Umgestaltung der Natur mittels Arbeit vermag er sich selbst in den Objekten, die er geschaffen hat, zu erkennen. Durch die Objektivierung seiner selbst mittels Arbeit gelangt er zu dem Bewusstsein, dass es seine eigene Tätigkeit ist, die die Welt verändert. Durch dieses Handeln, durch die Objektivierung reflektiert er sich selbst, erkennt seine Freiheit und wird dadurch zum Subjekt. Der Herr wird unwesentlich, da er nicht arbeitet. Indem dagegen der Knecht sich durch die Arbeit objektiviert und die Natur verändert, gelangt er zu dem Bewusstsein, dass es seine eigene Tätigkeit ist, die den wesentlichen Faktor der Objektivität ausmacht. Durch die Tätigkeit und deren Vergegenständlichung in der Welt reflektiert er sich selbst, erkennt seine Freiheit und wird so zum Subjekt. Seine Freiheit ist mit dem Selbstbewusstsein verbunden, dass er als freies Subjekt selbst dazu in der Lage ist, die Objektivität als Bedingung seines eigenen Selbstbewusstseins umzugestalten. Das Joch des Herrn ist abgelegt. Durch die Unfreiheit hindurch gelangt er zur Erkenntnis seiner Freiheit.

Die zentrale Bedeutung dieser Darstellung, die ich hervorheben möchte, liegt in der Bestimmung, warum Dialektik für Hegel notwendig ist und wie die Dialektik auftritt. Mein vorangegangenes Gleichnis vom Samen war mangelhaft, da es den Eindruck erwecken könnte, dass wir Dialektik als eine abstrakte Methode brauchen, um sie auf Widersprüche und Veränderungen in einem fremden, externen Objekt anzuwenden. An dieser Erscheinungsform ist zwar etwas Wahres. Aber Hegels wirkliches Argument besteht darin, dass dialektische Veränderung durch unser eigenes Handeln und unsere eigene Reflexion hervorgebracht wird. Wir brauchen Dialektik, um eine dialektische Wirklichkeit zu erfassen, die wir permanent dialektisch hervorbringen. Für Hegel ist die Arbeit die Quelle der Dialektik. Was dialektisch verstanden werden muss, ist der Widerspruch, der durch unser eigenes Handeln hervorgebracht wird, die Spaltung dessen, was einst ein statisches Ganzes war, in einen wechselseitig sich konstituierenden und transformativen Widerspruch (oder eine Nichtidentität) zwischen uns selbst als Subjekt und Objekt des historischen Prozesses, dessen Entfaltung Hegel das Absolute nennt. |P

Omair Hussain ist Mitglied der Platypus Affiliated Society. Sein Text erschien ursprĂĽnglich in der englischsprachigen Platypus Review #135 (April 2021). Er wurde von Jim Igor Kallenberg, Thuy Linh Pham und Tobias Rochlitz ins Deutsche ĂĽbersetzt.


1    Robert B. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness. New York 1989, S. 5. [Originalzitat in englischer Sprache: „a priori knowledge of substance”].