Wo bleibt die Forderung nach dem erfüllten Leben?
Platypus Review #23 | Januar/Februar 2023
Ein Interview mit Tove Soiland über die Haltung der Linken zu den Corona-Maßnahmen, die Epoche des postideologischen Totalitarismus und die Notwendigkeit einer plural diskutierenden Linken
von Lisa Müller und Andreas Wintersperger
Tove Soiland war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck. 2003 initiierte sie den „Gender-Streit“, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. Sie arbeitet zu Fragen feministischer Theorie und politischer Ökonomie sowie zum Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse und ist aktuell im Kollektiv Linksbündig aktiv.
Das Interview wurde am 31.05.2022 von den Platypus-Mitgliedern Lisa Müller und Andreas Wintersperger geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.
Lisa Müller und Andreas Wintersperger: Wir sprechen gerade im Frühsommer 2022, nach zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie. Aktuell wird die Pandemie vom News-Cycle des Ukrainekonflikts und der Inflation überschattet. Was waren deine persönlichen Erfahrungen mit der Linken in den letzten Jahren der Krise neoliberaler Politik und ihrer Zuspitzung durch die Corona-Pandemie?
Tove Soiland: Ich habe für eine Gewerkschaft in Zürich Seminare für Frauen angeboten, in denen wir vor allem feministische, aber auch politische Ökonomie behandelt haben. Wir konnten gerade noch die letzte Sitzung machen, dann kam der Lockdown. Nach einer kurzen Phase der Angst habe ich festgestellt, dass in der Corona-Berichterstattung sehr viele Widersprüche sind. Ich habe mich noch immer nicht davon erholt, dass auf meinen Aufruf an die Seminargruppe, uns weiterhin zu treffen, zunächst keine Antwort kam. Wir saßen alle zuhause, stillgestellt, aber ich hatte einfach das Bedürfnis zu sprechen. Nach der Rückmeldung einer Teilnehmerin bildete sich dann die Gruppe Feministischer Lookdown. Wir haben uns von Anfang an auch physisch getroffen, weil uns das für das gemeinsame Denken wichtig war. Wir waren natürlich total verwirrt: Die Informationen waren alle zugänglich, aber wir waren nicht im Lesen von Statistiken geübt und auch keine Epidemiologinnen. Wir mussten aber diese Informationen aufbereiten. Von der ursprünglichen Seminar-Gruppe erhielten wir darauf unglaubliche Rückmeldungen, die uns unterstellten, antisemitisch und verschwörungstheoretisch zu sein. Irgendwann dämmerte mir, dass das nicht nur diese 50 Frauen vom Leseseminar waren, sondern das offenbar die Meinung der gesamten Linken widerspiegelt. Unsere beiden linken Zeitungen in der Schweiz, die WOZ und die Republik, haben auch so berichtet. Man las von der NZZ bis zur Republik überall denselben Wortlaut. Ich verstand dann, dass hier etwas Neues geschieht, zu dessen Verständnis und Interpretation mir zunächst die Koordinaten fehlen. Ich bin mittlerweile im Kollektiv Linksbündig aktiv, das dabei ist, Worte und Konzepte zu finden, mit denen wir erfassen können, was uns gegenwärtig geschieht. Das halte ich für zentral. Mir fällt nach wie vor auf, dass eine grundsätzliche Kritik daran, dass die Corona-Krise nicht ausreichend politisch bestimmt wird, innerhalb der Linken nicht stattfindet. Es wird nur auf einer oberflächlichen Ebene etwas kosmetische Kritik geübt.
Was sind die Ziele von Linksbündig und Feministischer Lookdown?
Wir denken, dass Corona einer Restrukturierung von dem dient, was wir bisher als Neoliberalismus bezeichnet haben. Ich nenne das einen autoritären Neoliberalismus. Ich finde auch den Begriff des postideologischen Totalitarismus interessant.
Das Ziel ist, diese neue politische Konstellation zu beschreiben, zu verstehen und in die Linke hineinzutragen, inwiefern die Corona-Krise eine politische Gefahr für sie darstellt und deshalb ernst genommen werden muss. Die Corona-Krise ist nicht überstanden. Wir werden neue, ähnliche Formen von Gesundheitskrisen haben. Generell hat diese Krise den Sinn, den linken Widerstand zu brechen, oder eher, die Überreste der Linken noch ganz zu Fall zu bringen. Diese Zersetzung einer sich als kapitalismuskritisch verstehenden Linken ist schon sehr lange im Gang.
Was macht unsere Gegenwart zu einer „postideologischen Epoche“ und welche Rolle kommt der Linken dabei zu?
Die Linke verkennt sehr grundsätzlich, mit welchem Feind wir es zu tun haben. Ich war am Anfang sehr perplex, wie ich Antisemitin sein soll, wenn ich Jüdin bin, aber offenbar kann man beides sein. Der Fokus und die Angst der außerparlamentarischen Linken lag immer auf dem Kampf gegen Rechts: Das sind Rassisten, die erkennt man sofort – ein klares Feindbild. Ich glaube, dieser Feind hat sich verändert und das macht die Gegenwart aus. Deshalb habe ich in meinem letzten Artikel im Neuen Deutschland geschrieben,1 dass der neue Kapitalismus in seinen totalitären Tendenzen nicht das Gewand traditionell rechter Ideologie haben wird, wie wir sie kennen: keine Rassenideologie, sondern eben umgekehrt, er kommt sehr modern und aufgeklärt daher. Das heißt aber nicht, dass er nicht trotzdem auch gefährlich ist. Er wird es vor allem deshalb, weil die Linke diese postideologische Konstellation nicht versteht. Damit meine ich, dass die heutigen Regierungen uns nicht mehr diese oder jene Ideologie aufdrängen, sondern lediglich die Gesellschaft im Sinne des Guten verwalten. Foucault nennt das Biopolitik. Diese hat kein Ziel, sie möchte nur optimieren: die Universität, die Selbstentwicklung und jetzt die Gesundheit. Da nie ein Ziel genannt wird, findet darüber auch kein Diskurs statt, es steht nichts zur Disposition. Über die Vorstellung, dass ein Staat nur „arische“ Menschen beherbergen soll, kann ich debattieren, beim Gesundheitsschutz, da ist man zunächst einmal sprachlos. Man kann ja nicht sagen, dass man dafür ist, dass Menschen krank werden. Das Terrain, auf dem wir Konflikte austragen können, kommt uns abhanden.
In deinem Artikel im Neuen Deutschland führst du den Begriff des Postideologischen auf die marxistische Lesart des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan zurück. Was können MarxistInnen von Lacan für emanzipatorische Politik lernen? Und warum erscheint er für dich gerade heute als Anknüpfungspunkt für linke Kritik?
Ich beziehe mich in dieser Verknüpfung von Marx und Lacan auf die Schule von Ljubljana, wobei sie mich in dieser Krise sehr enttäuscht hat. Žižek ist ein starker Befürworter der Maßnahmen. Ich finde jedoch, dass seine Theorien zu dieser Schlussfolgerung im Widerspruch stehen.
Für mich persönlich hat Lacan in dieser Situation sehr viel Bedeutung, weil er selbst während der 68er-Unruhen die Protestierenden und Studierenden davor gewarnt hat, einer neuen Form von Herrschaftstechnologie auf den Leim zu gehen, weil sie nicht sehen, dass die Liberalisierung, die sie fordern, eigentlich Teil eines neuen Regimes ist, das nicht mehr disziplinär operiert, wie Foucault sagen würde, sondern unendlich viele Möglichkeitsräume offerieren will.
Da kommt Lacans Verständnis des Subjekts sehr entgegen, weil er die Vorstellung einer Befreiung als Triebbefreiung grundsätzlich in Frage stellt. Die Vorstellung einer Triebbefreiung geht davon aus, dass wir dann befreit sind, wenn wir die Einschränkungen, die uns die Gesellschaft auferlegt, überwinden. Was Lacan dieser zu einfachen Vorstellung entgegenhält, ist, dass nicht die Gesellschaft diese Einschränkungen herstellt, sondern, und das sieht ja auch Freud, dass unserem Luststreben selbst etwas inhärent ist, das um einen Verlust kreist. Wenn wir den Menschen als ein Wesen verstehen, das sein Begehren ohne diesen Verlust haben kann, dann machen wir aus ihm vielleicht ein Wesen, das eher Instinkte, aber nicht in einem menschlichen Sinne Triebe besitzt. Im Triebverständnis Lacans ist der Verlust zentral dafür, dass ein begehrendes Wesen erst entstehen kann. Lacans Kritik bestand darin, dass in der Gesellschaft, welche von der 68er-Bewegung unterstützt und gefordert wurde, ein solches verlustzentriertes Menschenbild nicht mehr nötig wäre. Er spricht von der „symbolischen Kastration“ und formuliert damit Freuds These des Ödipuskomplexes neu als einen notwendigen Verlust, den jedes Menschenkind bei seinem Eintritt in die Gesellschaftlichkeit erleidet.
Die Vorstellung, dass dieser „Ursprungsverlust“ nicht mehr notwendig sein soll, ist etwas, womit wir verführt werden, aber die Idee grenzenloser Möglichkeiten ist eine Falle. Wir verstehen dann nicht mehr, warum wir trotzdem auf Grenzen stoßen, von denen Lacan sagt, dass sie dem menschlichen Begehren inhärent sind. Seiner These nach verspricht der Neoliberalismus beziehungsweise der Kapitalismus den Menschen, diese inhärente Grenze auflösen zu können. Eine solche Analyse, die versucht zu verstehen, wie der Neoliberalismus an psychischen Mechanismen andockt, finde ich außer bei Lacan nirgends. Es ist Lacans Annahme der Negativität des Subjekts und der Welt, die ihn für emanzipatorische Bewegungen heute attraktiv macht. Die Lacan-Marxisten sagen, der Kapitalismus beutet genau dieses Negative aus. Er versucht, den Menschen dieses Negative wegzunehmen, um uns zu suggerieren, dass nur das Positive übrig bleibt, aber genau das ist die Falle.
Den Begriff des postideologischen Totalitarismus habe ich vom italienischen Psychoanalytiker Massimo Recalcati. Auch er befürwortet die Corona-Maßnahmen, aus mir unverständlichen Gründen.
Die Maßnahmen geben vor, angeben zu können, was für uns individuell Gesundheit bedeutet. Das funktioniert schon gar nicht auf der psychischen, aber auch nicht auf der körperlichen Ebene. Ein Gesundheitsverständnis, das vom Seelischen abstrahiert, ist reduktionistisch – und es funktioniert nicht. Die Vorstellung, dass wir alle bezüglich dieses ganz individuellen Begehrens gleich zu formen wären, ist eine biologistisch verstandene Gesundheit. Diesen Biologismus, der die Menschen auf ein Biotop reduziert, nimmt die Linke an den Corona-Maßnahmen nicht wahr, obwohl sie sonst doch immer so empfindlich auf alle Biologismen reagiert hat. Wenn man Lacan liest, wird man dafür sensibilisiert, den Menschen nicht wie ein Biotop zu behandeln und versteht, dass Herrschaftstechnologien heute genau das versuchen.
In deinem Essay Genießen als Faktor des Politischen. Psychoanalytische Zugänge zur Gegenwart3 nimmst du eine interessante Nebeneinanderstellung der Negativität in der Subjektkonzeption von Lacan zur negativen Dialektik der Frankfurter Schule vor. Inwiefern ist die negative Dialektik der Frankfurter Schule ein Mittel zur Erkenntnis und wie unterscheidet sie sich von eben der Verteidigung des Negativen basierend auf Lacans Lesart der Psychoanalyse? Was ist der Unterschied zwischen der negativen Dialektik der Frankfurter Schule und der negativen Ontologie Lacans?
Ich glaube, dass der Begriff der negativen Ontologie für das Subjektverständnis nützlich ist. Der große Unterschied zwischen der Frankfurter Schule und Lacan ist, dass Lacan vom Subjekt ausgeht und das Subjekt für ihn immer ein unbewusstes Subjekt ist. Lacan geht davon aus, dass das moderne beziehungsweise postaufklärerische Subjekt aus einer Leerstelle entsteht. An seinem Ursprung steht kein kosmologisch-religiöser Zusammenhalt. Es gibt keine Letztbegründung des sozialen Zusammenhangs. Die zentrale These ist, dass diese Leerstelle im Kern der sozialen Ordnung nicht einfach eine Kontingenz darstellt, sondern dass darin das Reale hineinfließt. Das Reale ist eine Dimension, die ich mit dem Begriff des Genießens umschrieben habe. Sie tritt an die Stelle eines abwesenden Sinns. Wir können uns dieses Reale so vorstellen, dass wir unbewusst die Welt trotzdem mit etwas ausgestalten, das nicht sinnhaft ist, von dem wir aber angezogen werden und in dem wir unbewusst genießen.
Dieses ganze Reich des Realen – und somit auch des unbewussten Genießens – sehe ich beim Menschenbild der Frankfurter Schule nicht. Lacan verteidigt diesen Bereich, weil er den Kapitalismus wie den Stalinismus strukturiert sieht, der versucht, den Menschen diesen Bereich zu nehmen. Beide tun es auf sehr unterschiedliche Weise: der Kapitalismus, indem er es durch die ganzen realen Wünsche in Form von Gegenständen, die wir kaufen können, obsolet werden lässt; der Stalinismus möchte hingegen einen Menschen, der gar nicht mehr auf dieses Reale bezogen ist. Beides sind Sackgassen. Lacan verteidigt die Dimension der ontologischen Leerstelle, da sie der Rationalisierung des Menschen entgegentritt, weshalb sich das Negative als Mittel der Kritik anbietet. Deshalb streicht Lacan das Subjekt durch. Das Subjekt ist nicht einfach mächtig über sich – es ist das Subjekt seines Phantasmas, welches wiederum der Abkömmling des Realen ist. Das Subjekt kann nicht einfach über sein Phantasma ein Verhältnis zum Realen haben, wir sind dem Realen eher unterworfen – es besteht eine tiefe Abhängigkeit des Subjekts. Ich habe den Verdacht, dass bei Adorno letztlich die Vorstellung bestehen bleibt, dass wir uns selbst gegenüber transparent sein könnten. So findet man es jedenfalls bei Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft: Dass es eine vernünftige Organisation der Libido gäbe, wenn die Gesellschaft nicht so unterdrücke-risch wäre. Diese Grundannahme ist für Lacan nicht nur nicht möglich, sondern die eigentliche Pointe von ihm ist, dass genau darin das Versprechen des Kapitalismus liegt.
Sowohl die Frankfurter Schule als auch Lacan adressieren in den 50ern und 60ern die Krise menschlicher Subjektivität in der Massengesellschaft unter Bezugnahme auf Konzepte der Psychoanalyse. Sie kritisieren die Tendenz, die die psychoanalytische Entwicklung in der Nachkriegsgesellschaft annimmt: eine Tendenz zur gesellschaftlichen Integration der Individuen in den Status quo. Beide haben dabei eine fundamental unterschiedliche Auffassung von Geschichte und Freiheit. Für die Frankfurter Schule waren das Scheitern der Weltrevolution und die Krise des revolutionären Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale bewusste und vor allem nicht wegzudenkende Bedingungen ihrer eigenen Reflexion auf Subjektivität und Psychoanalyse. Welche Bedeutung hat dieser Moment des Scheiterns der Weltrevolution – etwa von 1917 bis 1923 – für die marxistische Lesart von Lacan? Hat diese Geschichte irgendeine Bedeutung für diese Lesart und welche Bedeutung hat dieser historische Moment auch für dein eigenes Denken?
Lacan war mehr fokussiert auf das, was er in den 60er-Jahren vorfand. Seine pointiertesten politischen Arbeiten behandeln die 68er-Bewegung, dieses Ineinandergreifen von neuer Form von revolutionärer Bewegung und Lacans eigener großer Skepsis, dass das wirklich das bringen würde, was sich die 68er-Bewegung erhoffte. 1968 war die resignierte Reaktion darauf, dass der Kapitalismus so wohl nicht zu überwinden ist. Gerade die maoistischen Studierenden bei Lacan wollten wieder eine Weltrevolution, was sich dann so merkwürdig mit sexueller Revolution verbunden hat – obwohl das eigentlich überhaupt nicht zusammenpasst, ging das offenbar 1968 problemlos ineinander. Lacan kritisierte sie, um sie davor zu bewahren, in den Untergrund zu gehen. Sein Schwiegersohn ist das bekannteste Beispiel.
Bei Lacan war die Urerfahrung des Scheiterns der Revolutionen 1918/1919 zentral. Diese Erfahrung zwingt uns, von einem Ideologieverständnis des notwendig falschen Bewusstseins abzurücken, dass immer noch davon ausgeht, dass die Menschen unter anderen ökonomischen Bedingungen Einsicht in ihren Verblendungszusammenhang haben könnten. Von Lacan kann man die Fragestellung mitnehmen, wie es möglich ist, dass Menschen so dezidiert gegen ihre Interessen handeln. Der erste Weltkrieg als dieses erste große skandalöse Versagen der Linken: Warum hat sie hier so versagt? Warum hat sie ihre eigenen Leute in den Krieg geschickt, obwohl von Anfang an klar war, dass dieser nichts anderem diente als den Kolonialmächten und dem Großkapital? Diese Erfahrung hat Lacan auch gemacht. Er war in den 1930er-Jahren fasziniert vom Surrealismus. Er war zunächst in Künstlerkreisen unterwegs und ist dann über die Surrealisten auf Marx aufmerksam geworden. Er hatte große Sympathien für kommunistische Bewegungen in Frankreich und wollte ihnen mitgeben, dass die Frage der Befreiung des Menschen komplexer ist – er wollte einer humanistischen Marxrezeption entgehen. Das ist auch mein Zugang heute zum Lacan-Marxismus. Ich glaube, dass wir uns von einer humanistischen Lesart von Marx verabschieden müssen. Das führt genau in diese Aporie, in der man angeben muss, was dem Menschen guttut. Die Vorstellung von Befreiung ist immer auch eine Vorstellung davon, was für den Menschen das Richtige wäre. Durch die Verbindung von Lacan und Marx kann ich die Analyse des Kapitalismus verstehen, ohne die marxsche Geschichtsteleologie übernehmen zu müssen, die mit einem Menschenbild einhergeht, dass ich nicht teilen möchte, weil ich es tendenziell für totalitär halte. Davon ausgehend müssen wir die humanistische Lesart von Marx mithilfe der Lacanschen Negativität des Subjekts korrigieren.
Die Neue Linke ist mit dem Selbstverständnis als kritische Bewegung gegenüber dem autoritären Staat – auch gegenüber dem Wohlfahrtsstaat – angetreten, um ihn zu überwinden. Die gegenwärtige Linke – gerade auch in der Pandemie – macht sich eher zum Anhängsel des Staates. Inwiefern hat die 68er-Bewegung eine Potenz ausgedrückt und inwiefern stellst du dir die Beziehung einer emanzipatorischen Linken zum autoritären Staat vor?
Ich stehe in diesem Punkt nach wie vor ein bisschen wie der Esel am Berg. Ich verstehe nicht, dass dieselbe Linke, welche jedes kleine Disziplinarelement am Staat kritisiert hat, plötzlich über Nacht akzeptiert, von diesem Staat in der eigenen Wohnung eingesperrt zu werden. Ich verstehe nicht, warum dieser liberalistischste Flügel der sozialen Bewegung am meisten die repressiven Maßnahmen begrüßt hat.
Ich denke, das Problem der 68er-Bewegung war, dass sie an die Gesellschaft und damit auch an den Staat die Forderung gestellt hat, ein befreites Leben führen zu können. Das Missverständnis liegt darin, dass wir das nicht von der Gesellschaft einfordern können. Todd McGowan sagt: Wenn jemand davon spricht, ihm sei das Genießen gestohlen worden, wird eben grundlegend die Negativität verkannt, die im Genießen steckt. Der Forderungscharakter bleibt erhalten. Jetzt wird nicht mehr das erfüllte Leben gefordert, sondern Gesundheit. Die Kontinuität liegt in der Forderung, dass das von außen kommen muss und wir bereit sind, dafür alles in Kauf zu nehmen.
Natürlich gibt es auch ein Potenzial in der 68er-Bewegung und der Forderung nach einem selbstbestimmten Leben, daran schließt die ganze Frauenbewegung an. Die Frauengesundheitsbewegung war es, die mich in den 80er-Jahren politisiert hat. Wir wollten selbstbestimmt mit unseren Körpern umgehen und eigene Techniken zur gegenseitigen Bildung und Schulung entwickeln. In dieser Selbstgestaltung läge ein riesiges Potenzial. Das hat die Linke vollkommen aufgegeben, weil sie genau das von einem technologisierten Staatsapparat verlangt. Wir gingen damals davon aus, unsere eigenen Experten in Sachen Körper zu sein: Wo ist das hin? Es gäbe hier sicher ein großes Potenzial, wenn wir uns wieder trauen, auch Verantwortung zu übernehmen und Expertinnen unserer eigenen Gesundheit zu sein, anstatt zu erwarten, dass irgendwelche Experten mit besonderem Wissen das für uns lösen.
Im 2020 veröffentlichten Transnationalen feministischen Manifest steht, dass die Corona-Pandemie eigentlich die bestehende Krise des Neoliberalismus beschleunigt und verdeutlicht hat.4 Du nennst es autoritären Neoliberalismus. Die Linke war nicht in der Lage, den Neoliberalismus als eine Potenz wahrzunehmen und politisch zu adressieren. Wie schätzt du die Verfasstheit der gegenwärtigen Linken ein, einen postneoliberalen Kapitalismus als sich fortsetzende Krise adressieren zu können? Beziehungsweise: Inwiefern haben wir aus diesem historischen Scheitern gelernt? Oder falls nicht: Wie können wir wieder lernen zu lernen?
Da bin ich pessimistisch und zwar aus dem einfachen Grund, dass die heutige Linke selbst die wichtigste Kraft dieses neuen totalitären Neoliberalismus ist. Sie ist nicht nur nicht mehr eine mögliche Gegenkraft, sondern sie ist die treibende Kraft. Das liegt daran, dass sie das Autoritäre nicht als autoritär wahrnimmt, sondern als Schutz. Sie verkennt, in welche Dienste sie sich damit stellt. Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem, was der totalitäre Neoliberalismus und dem, was die Linke fordert. Mir scheint manchmal, es gibt so etwas wie eine Sehnsucht nach neuen rigiden Strukturen, nach einem neuen Autoritarismus. Und wenn das dann noch verbunden wird mit der Botschaft, dass es im Dienste des Guten für die Menschheit steht, dann scheint die Linke diese Verbindung applaudierend aufzunehmen. Diese Offenheit für autoritäre Strukturen sieht man beispielsweise in der Diskussion um Political Correctness und darin, wie die junge Generation ihre Sexualität organisiert. Da ist nur noch Moral vorhanden und kein Genießen mehr. Einerseits möchte sie möglichst plural sein und alle Facetten der Individualität entfalten, gleichzeitig endet aber alles in totaler Askese und Kollaps – das Gegenteil von Entfaltung. Dieses Zusammenfallen von Autoritarismus und Befreiungsbewegung sehe ich als Ursprung der Rolle der Linken als treibender Kraft des totalitären Neoliberalismus.
Was wäre deiner Ansicht nach notwendig, damit die Linke aus dieser Situation, in die sie sich deiner Ansicht nach selbst hineinmanövriert hat, wieder lernen könnte? Und was sollte die Linke eigentlich machen?
Ich würde bei der Corona-Krise anfangen: Es bräuchte dringend eine Diskussion darüber, was geschehen ist und warum die Linke unvorbereitet und nicht bereit war, plural zu diskutieren. Es bräuchte Diskussionsorte, -runden, -veranstaltungen, wo diskutiert werden könnte, warum diese Pluralität nicht mehr möglich ist, warum mit Linken, die von Anfang an auf die Gefährlichkeit der Maßnahmen hingewiesen haben, nicht diskutiert werden konnte. Wir müssten mit einer innerlinken Aufarbeitung beginnen, bevor wir von irgendeiner Handlungsfähigkeit sprechen können.|P
1 Tove Soiland: „Ein postideologischer Totalitarismus?“, Neues Deutschland 18./19.03.2022, Nr. 66 (Jg. 77, 2022), S. 20. Online abrufbar unter: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162247.die-linke-und-corona-ein-postideologischer-totalitarismus.html.
2 © Gregor Wünsch, Le0606 (Antifa) – Antifa-Demozug Frontreihe, CC BY-SA 2.0.
3 Tove Soiland: „Genießen als Faktor des Politischen – psychoanalytische Zugänge zur Gegenwart. Eine Einleitung“, in: Postödipale Gesellschaft (Bd. 1), Hrsg. Marie Frühauf, Anna Hartmann und Tove Soiland, Wien 2022, S. 9–50.