Frontal gegen die Verhältnisse
Platypus Review #23 | Januar/Februar 2023
Ein Interview mit Koschka Linkerhand über queerfeministischen Menschenverstand, radikalfeministischen Frauenverstand und den ausbleibenden Rückenwind der Geschichte
von Jan Bielesch-Hemminger und Lisa Müller
Koschka Linkerhand publiziert in der Jungle World, Konkret, Wespennest und Phase 2. Sie vertritt einen materialistischen Feminismus und ist Herausgeberin des Sammelbandes Feministisch streiten. Außerdem betreibt sie einen Blog: https://koschkalinkerhand.de/. Das Interview wurde am 03.05.2022 von den Platypus-Mitgliedern Jan Bielesch-Hemminger und Lisa Müller geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.
Jan Bielesch-Hemminger und Lisa Müller: Wie bist du politisiert worden? Vor allem wann, wie und durch wen? Wer waren deine Einflüsse?
Koschka Linkerhand: Ich wurde gegen Ende meiner Schulzeit vor allem über die theoretische Schiene politisiert. In der Leipziger antideutschen Linken wurde damals vom antifaschistischen Schulnetz eine selbständig organisierte Jugendgruppe initiiert, die „Tomorrow“ hieß. Dabei gab es zwei Gruppen, die sich über alle klassisch antideutschen Themen – wie die Kritik des Antisemitismus und des Antiamerikanismus – vor allem theoretisch schlau gemacht haben. Ein kleiner Part kam auch dem Geschlechterverhältnis zu. Die Wertkritik und namentlich Roswitha Scholz hatten damals spürbaren Einfluss auf die theoretische Linke in Leipzig. Die Wertabspaltungstheorie von Roswitha Scholz war einer der ersten Texte, die ich damals gelesen habe. Eine Genossin von mir gründete eine Frauengruppe, in der wir angefangen haben, uns damit zu befassen.
Wie haben sich diese beiden Perspektiven – dein antideutscher Background und dann später der materialistische Feminismus – gegenseitig beeinflusst? Wie kam diese Kombination bzw. diese Entwicklung zustande?
Was beiden gemeinsam ist, einem feministischen Materialismus und einer antideutschen Theorie, ist ihr Beharren, gesellschaftliche Strukturen zu begreifen, also einen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse zu werfen. Es gibt offensichtlich einen Kapitalismus, es gibt recht offensichtlich ein patriarchales Geschlechterverhältnis. Was haben die miteinander zu tun? Beide behandeln diese Frage auf einer theoretischen Ebene und stellen den Versuch an, sie beschreiben zu wollen.
Beiden gemeinsam ist auch das Theoretische, also der materialistischen Theorie natürlich, weil sie Theorie ist. Die Antideutschen sind aber auch eine linke Bewegung, die sich sehr stark ins Theoretische verbissen hat, abgesehen von punktuellen Geschichten, solidarisch mit jüdischen Einrichtungen oder kritisch gegenüber muslimischen Einrichtungen zu sein. Darum passt es vielleicht ganz gut zusammen – auch dieses Beharren, das ich mit der politischen Muttermilch eingeflößt bekommen habe, dass man ohne Marx, aber vor allem auch ohne Adorno die Welt nicht verstehen kann und dass man erst mal einen Begriff von Natur und Dialektik entwickeln müsste, bevor man überhaupt anfangen könnte zu denken. Das empfinde ich mittlerweile als eine ziemlich autoritäre Herangehensweise, teile allerdings trotzdem den Grundsatz, dass der Marxismus eine ganz wesentliche Grundlage einer materialistischen Theorie geliefert hat.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff des materialistischen Feminismus? Was ist das Materialistische daran? Welche Rolle spielt er in der Geschichte der Linken und welche Rolle hätte er noch zu spielen?
Das Zukunftswunschkonzert für den Materialismus? Ich glaube, historisch findet man ihn vor allem im marxistischen Feminismus, wenn man mit Clara Zetkin ansetzt. In der Arbeiterinnenbewegung haben sich mit ihr Stimmen gemeldet, die gesagt haben: Wir müssen uns auch anschauen, wo sich im doppelt freien Lohnarbeiter Reproduktionsarbeit verbirgt oder wie Arbeit und ihr Anderes – also die Reproduktion – eben immer auch geschlechtsspezifisch organisiert ist. Das ist eine feministische Strömung, die es bis heute gibt und die in Deutschland seit den 70ern prominent von Frigga Haug vertreten wird. Ich würde sagen, dass ein materialistischer Feminismus mit dem marxistischen Feminismus den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Analysekategorien des Marxismus, z. B. Lohnarbeit und die Reproduktion sozialer Verhältnisse, gemeinsam hat.
Trotzdem versteife ich mich aber gar nicht so stark auf den Marxismus, dass ich sagen würde: Es braucht unbedingt einen marxistischen Feminismus. Die Psychoanalyse finde ich da total wichtig. Das kommt zum Teil aus meinem antideutschen Einfluss. Jessica Benjamin stellt für mich eine große Referenzfigur dar. Sie beschreibt, wie sich das Patriarchat auch auf einer psychologischen Ebene herstellt und schaut sich an, wie sich jede und jeder Einzelne über die Erziehung in der Kleinfamilie subjektiviert. Wie kommen da Jungs raus, die völlig selbstverständlich das Bedürfnis bzw. das Gefühl haben, sich über Lohnarbeit, Geldverdienen und Besitz in der Welt verwirklichen zu können? Und wie kommen da kleine Mädchen raus, die die Erfahrung verinnerlicht haben, dass Selbstverwirklichung in der Welt heißt, sich über einen Mann zu verwirklichen, also, dass eine idealisierende Liebe das ist, was einen ganz wichtigen Wert darstellt und praktisch unauflöslich mit dem Frau-Sein verknüpft ist?
Und auch das Schöngeistige und mein Interesse an Literatur entstammt zum Teil aus meinem antideutschen Background. Die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis in der DDR-Literatur, zum Beispiel bei Christa Wolf oder Brigitte Reimann, ist für mich spannend, um mich dann darüber dem Ganzen zu nähern. Auch Stone Butch Blues, der Roman von Leslie Feinberg, bringt das Geschlechterverhältnis auf ganz berührende und dramatische Weise zur Sprache, wie marxistische Theorie das nicht kann. Das möchte ich gern in feministische Theorie mit einbeziehen.
Rosa Luxemburg schreibt 1914 in Die Proletarierin1 zum ersten internationalen Frauentag, dass es der proletarischen Frau vor allem darum gehen sollte, sich dem demokratischen Kampf des Proletariats anzuschließen, und sich der Widerspruch entsprechend nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Kapital und Arbeit befinde. Die erste Frauenbewegung war ja insofern erfolgreich, als sie das Wahlrecht erkämpft hat. Aber sie wurde dann auch kritisiert und über sich hinausgetrieben von der zweiten Frauenbewegung. Wie beurteilst du das Verhältnis zwischen der ersten Frauenbewegung, also den Suffragetten und den Sozialistinnen? Und in welchem Erbe steht die zweite Frauenbewegung?
Oh, eine große Frage. Ich hatte ein bisschen das Bild vor Augen, dass Clara Zetkin wahrscheinlich den Raum verlassen und zwei Wochen lang nicht mit Rosa Luxemburg gesprochen hat, nachdem Rosa das proklamiert hat. Das ist ja diese klassische Nebenwiderspruchsthese.
Ich hatte erst letzte Woche eine ähnliche Diskussion mit einem jungen Stalinisten, denn gerade ist es auch in der Leipziger Linken verbreitet, dass sich viele junge Leute in Kaderorganisationen organisieren. Und die formulieren dann über 100 Jahre später das Gleiche wie Luxemburg, wahrscheinlich mit weniger Selbstreflexion und natürlich nicht mit diesem Heldinnenmut, mit dem sie durchs Leben und durchs politische Feld gegangen ist. Er sagte zu mir: „Die Frauen sind doch keine Klasse!“ und: „Wo ist da der Widerspruch, wo ist da der Antagonismus?“
Den Widerspruch zwischen bürgerlicher und sozialistischer Frauenbewegung finde ich schon sehr interessant oder fruchtbar. Ich habe vor einer Weile an einem Projekt zur Stadtgeschichtsschreibung namens „Re*mapping“ teilgenommen und eine Genossin und ich haben da ein Gespräch zwischen Clara Zetkin und Louise Otto-Peters fingiert: Wie die beiden sich auf einer nächtlichen Straße begegnen und sich ein bisschen in die Haare geraten und jede die andere zu überzeugen versucht, dass sie das Bessere für die Frauen will. Die eine, indem sie sagt: „Natürlich ist der Sozialismus das Wichtigste!“ und die andere, die darauf hinweist, dass da vielleicht doch einiges nicht aufgeht.
Ich bin manchmal hin- und hergerissen. Natürlich schlägt mein Herz links und ich würde sofort sagen, dass ich eher eine sozialistische als eine bürgerliche Feministin bin. Allerdings sind nicht alle feministischen Kämpfe immer sozialistische. Wenn ich gleiche berufliche und Bildungsmöglichkeiten für Mädchen fordere – was mir ein wichtiges Anliegen ist –, dann habe ich auch eine Schnittmenge mit einem liberalen Feminismus. Ich könnte es für mich auch fruchtbar übersetzen in diesen Widerspruch zwischen Realpolitik und einer Gesellschaftstheorie, der es ums Ganze geht, um die Umwälzung der Verhältnisse – wie da das Verhältnis zueinander ist.
Die Suffragetten sind unter Einsatz ihrer bürgerlichen Reputation und manchmal auch ihres Lebens auf die Straße gegangen, um das Frauenwahlrecht durchzusetzen. Das sind totwichtige Sachen und in vielen Teilen der Welt gibt es das immer noch nicht. Da kann man jetzt sehr plakativ auf den Iran oder Saudi-Arabien verweisen, wo die bürgerlichen Rechte der Frau bis heute nicht eingelöst sind.
Und ich würde sagen, sie sind auch nicht komplett einzulösen, weil der Kapitalismus letztlich patriarchal organisiert ist. Ich glaube, die Forderungen der Ersten Frauenbewegung sind eben nicht komplett verwirklicht, also die vollständige Verbürgerlichung der Frau gibt es nicht, das macht der Kapitalismus mit seinen immanenten Widersprüchen gar nicht mit.
Darum lohnt es sich anzuschauen, wohin so ein bürgerlicher Feminismus auch gehen kann. Was man bei Louise Otto-Peters in späteren Jahren findet, ist eine ganz krasse Verbürgerlichung, also eine Bismarck-Verehrung oder auch sowas fast Hegelianisches: Die deutsche Frau ist im Kaiserreich auf dem Weg zu sich selbst zu kommen, weil sie jetzt schon ganz viele Rechte hat und der Rest wird, so Gott und der Kaiser uns beistehen, sicher auch bald kommen. Das ist die Versöhnung mit den Verhältnissen, wie man sie auch bei manchen feministischen Organisationen findet, wo das Böse nur noch aus dem Ausland kommen kann und die guten bürgerlichen deutschen Frauen besorgt sind. Das ist eine Figur, die auch von der Emma leider immer wieder aufgerufen wird.
Du hast gesagt, dem sozialistischen Feminismus gehe es um die Veränderung des Ganzen. Kannst du noch mal sagen, was du damit meinst?
Ich denke, dass es wichtig ist, sich damit zu befassen, wie Kapitalismus und Patriarchat funktionieren. Also ob das jetzt historisch betrachtet eine Ein-System-Frage ist, was z.B. Roswitha Scholz sagen würde: Dass Kapitalismus immer Patriarchat ist und sein wird. Oder sind das zwei verschiedene Arten der Herrschaft oder Macht, die ineinandergreifen und sich historisch miteinander verquirlt haben, sodass sie sich nicht einfach voneinander lösen lassen. Letzteres ist eher meine Ansicht.
Ich glaube, dass es sehr nützlich ist, sich anzuschauen, dass Kapitalismus schon immer patriarchal gewesen ist in seinen Ursprüngen. Dass er auf Vorstellungen von Männlichkeit, von Souveränität, auch auf Vorstellungen von dem antiken Bürger beruht, die sehr eng mit dem Geschlechterverhältnis verknüpft sind. Und dass das Geschlechterverhältnis eben nicht etwas Antiquiertes ist, was ja auch viele Linke meinen.
Es gibt die Annahme, dass der Kapitalismus in sich das Potenzial hätte, das Geschlechterverhältnis zu überwinden, wenn auch im Schlechten: Dass wir dann alle Arbeitskraftbehälter werden. Ich denke das eben nicht, denn solange produziert wird, müssen bestimmte menschliche Tätigkeiten abgespalten werden. Es muss Reproduktionsarbeit stattfinden, und wenn diese nicht auf die Frauen hier verlagert wird, wird sie ausgelagert auf Frauen in anderen Teilen der Welt. Ein gutes Beispiel: Frauen nähen heutzutage keine Klamotten mehr, sondern kaufen alle diese billige Kleidung aus Bangladesch, die ausschließlich Frauen in Zwölf-Stunden-Schichten nähen und somit die Last der Ausbeutung tragen, der Frauen in Deutschland, in unserem sozialen Milieu, entkommen sind. Um dieses Verhältnis zwischen Patriarchat und Kapitalismus geht es mir in einem sozialistischen oder auch materialistischen Kritikrahmen. Dass das irgendwie zusammen angegriffen werden muss.
Du schreibst in Feministisch streiten,2 der materialistische Feminismus wäre ein Mittel, um produktiv in der Realität anpacken zu können oder die Realität produktiv machen zu können im Kampf für die Utopie. Was ist für dich die Utopie? Ist es der Sozialismus, ist es die Aufhebung des Geschlechterverhältnisses, ist es der Kommunismus?
Ich stelle mir das, genauso wie die meisten anderen großen Fragen, eher als Streitpunkt oder Fluchtpunkt in der Debatte vor. Wenn man zusammen Politik macht oder zusammen versucht, eine politische Bewegung auf die Beine zu stellen, muss man sich darüber verständigen, wie wir zusammenleben und in welcher Welt wir leben wollen. Und das dann mit – wie es eine Genossin immer nennt – utopischen Vorgriffen und realen Eingriffen in das, was ist und darauf, was wir haben wollen, umzusetzen. Man kann z.B. damit anfangen, in einer politischen Gruppe zu schauen, wie die Redeanteile von Männern und Frauen sind. Da fängt man eben an, sich darüber auszutauschen, was man nicht mehr will und wie man zusammen sein will.
Ich würde eine feministische Utopie grob auf einen Nenner bringen als eine Gesellschaft, in der Geschlecht keine strukturellen, hierarchischen Unterschiede mit sich bringt. Wo Geschlecht davon abgekoppelt ist, welche Möglichkeiten zur Verwirklichung Leute in der Gesellschaft haben. Dass vor allem diese patriarchale Schieflage nicht mehr besteht. Wie das im Einzelnen aussehen kann, ist mir nicht ganz so wichtig, also ob das jetzt Sozialismus oder Kommunismus ist. Ich schrecke manchmal etwas vor dem Kommunismus-Wort zurück, ich weiß auch noch nicht so ganz genau warum.
Vielleicht wegen des Neostalinismus?
Vielleicht wegen des Neostalinismus oder weil es mir doch ein Commitment zu sein scheint, zu dem ich nicht bereit bin. Ich weiß es nicht.
Die Zweite Frauenbewegung hatte im Zuge des Aufkommens der Neuen Linken eine Kritik an dem autoritären Wohlfahrtsstaat. Bei feministischen Forderungen stellt sich immer auch die Frage, ob es adäquat ist, bestimmte Forderungen – beispielsweise das Recht auf Abtreibung – an den bürgerlichen Staat zu stellen. Wie geht man damit um, dass einerseits der Staat als Garant bestimmter Rechte auftritt, diese Rechte zugleich aber immer auch unter Bedrohung stehen, zurückgenommen zu werden? Welches Verhältnis sollte eine Linke zum Staat haben?
Wieder eine klitzekleine Detailfrage! Ich würde noch mal bei der Spannung von Realpolitik und Utopie ansetzen. Ich habe großen Respekt vor Leuten, die in die Institutionen gehen, vor allem, wenn es um feministische Institutionen wie Frauenhäuser oder Beratungsstellen geht. Ich ziehe auch den Hut vor Leuten, die Parteiarbeit machen und sich in all diesen realen Widersprüchen bewegen – also Gelder für politische Bildung locker zu machen oder Zeit zu schinden, Frauen über ihre Rechte aufzuklären und ihnen zu helfen, ein selbstbestimmtes Leben anzufangen. Das sind schon krasse realpolitische Kämpfe.
Die Linke braucht ein gutes Verhältnis bzw. eine enge Anbindung an diese Kämpfe. Das hat damals meine Abwendung von der antideutschen Bubble bewirkt. Dort wurde – was auch nicht immer uncharmant ist – die Haltung vertreten: „Es ist ja eh alles falsch!“, „Was wollen wir denn vom Staat?“ und: „Es ist mir ja boogie, was der Staat über mich denkt oder was er für Kategorien über mich aufmacht“, „Warum soll ich als Homosexuelle meine Liebe über den Staat legitimieren?“ oder „Warum sollten Trans-Person denn anerkannt werden wollen von dem Staat, wie er ist?“ All das kann immer nur funktionieren, wenn man relativ behütet oder unangetastet vor sich hin leben und studieren kann. Diese Position können sich nur sehr wenige Menschen in sehr wenigen historischen Situationen leisten. Der Staat ist nun mal das, was er ist: der größte realpolitische Faktor und deshalb muss man ihn wohl oder übel miteinbeziehen.
Eine Denkfigur, die ich bei Rosa Luxemburg stark finde, ist die der revolutionären Realpolitik. Dabei geht es darum, stets eine utopische Spannung zwischen den konkreten Eingriffen in die jetzigen Verhältnisse und dem eigentlichen Ziel der Revolution aufrechtzuerhalten. Das funktioniert nicht innerhalb einer Person, sondern nur in einer Bewegung aus Leuten, die in Institutionen sitzen, die auf der Straße stehen und die Nazis umnieten, wenn es nötig ist, und Leuten, die soziale Arbeit leisten, die Bock auf Realpolitik haben. Letzteres kann ich mir zum Beispiel in Sachsen überhaupt nicht vorstellen und ich bin trotzdem froh, dass es jemanden wie Jule Nagel gibt. Es muss aber auch Leute geben, die immer wieder daran erinnern: Ich bin Staatsbürgerin, aber eigentlich ist das nicht das, was wir wollen, und mich interessieren ganz andere Sachen – wie Theorie oder Kunst oder eine anarchistische Selbstorganisierung. Eine linke Bewegung tut sich einen Gefallen, wenn sie versucht, diese verschiedenen Arten linker Politik und Perspektiven zusammenzubringen. Ich glaube tatsächlich, dass eine Bewegung diese Unterschiedlichkeit einbeziehen, vermitteln und ins Gespräch bringen muss.
Noch mal einen kleinen Schlenker zurück zur Geschichte: Wie reagierte die Neue Linke bzw. die Zweite Frauenbewegung auf die offen gebliebenen Fragen der Marxistinnen und der ersten Welle der Frauenbewegung?
Ich versuche, gute Antworten zu finden, aber ich bin auch kein Geschichtsbuch. Sieht man die Erste Frauenbewegung als das Streben nach der Verbürgerlichung der Frauen, erkennt man da schon das Beharren auf der Differenz. Die Differenz hatte einen wichtigen Platz. So gab es beispielsweise Aktivistinnen, für die das Wahlrecht gar keine so große Rolle spielte, sondern es eher darum ging, dass unverheiratete Frauen sich als Pflegerinnen, als Lehrerinnen verdingen dürfen, ohne dass sie von ihren Verwandten abhängig oder schlecht angesehen sind. Die Suche nach dem Weiblichen im Verhältnis zum Staat oder zum gesellschaftlichen Ganzen ist da schon angelegt.
Die Zweite Frauenbewegung führt die Frage weiter: Was ist die Stellung des Weiblichen? Und vor allem: Wie kann Revolution aussehen? Was ist denn mit der Kinderbetreuung? Was ist denn mit der Reproduktion der Arbeitskraft und was ist mit der weiblichen Sexualität, da wurde uns sexuelle Befreiung versprochen und es reicht überhaupt nicht aus, was da bisher umgesetzt wurde.
Aber trotzdem gab es den Gleichheitsfeminismus, der darauf abzielte, dass Frauen sich gleichberechtigt auf dem Arbeitsmarkt verwerten können. Das war genauso ein Punkt der Zweiten Frauenbewegung und etwas total Verständliches, Lauteres, was bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Eigentlich ist keiner dieser Punkte heute wirklich abgeschlossen.
Was denkst du, sind dann die Fragen, anhand derer sich die queerfeministische oder dritte Welle des Feminismus von der zweiten abgespalten hat? Handelt es sich in deinen Augen dabei um Fortschritt oder Regress?
Die dritte Welle war in meinen Augen eher eine Reaktion auf das Scheitern der Linken insgesamt, das sich nach dem Scheitern des Realsozialismus abzeichnete. Außerdem war sie eine Reaktion auf die Tatsache, dass kein revolutionäres Subjekt, weder Arbeiter noch Frauen, irgendwo in Sicht war. Der Neoliberalismus griff um sich, wo jede ökonomisch ihren Arsch an die Wand bringen musste. Dabei entstand auch die Möglichkeit, als lesbisches Pärchen im Reihenhaus zu leben, solange man eben arbeitete.
Aber gleichzeitig hat der Neoliberalismus auch diese Vereinzelung und Isolation sehr stark befördert, unter der letztendlich die feministische Bewegung leidet. Das gemeinsame Agieren auf der Straße ist dabei etwas Ungewohntes und Schwieriges geworden. Was mich daran gerade interessiert, ist auch dieses großes Schamthema, das der Neoliberalismus mit sich bringt. Er verlangt, mit den Verhältnissen, wie sie sind, klarzukommen. Kommt man aber in diesen kreativen und selbstorganisierten, projektbasierten Verhältnissen nicht gut unter, oder ist man nicht so schön, so fit, so taff, so schlank, wie man das gerne sein möchte, befördert es ein krasses Schamgefühl. Die Hochzeiten der Zweiten Frauenbewegung hatten da einen ganz anderen Drive. Es war klar, dass es sich bei diesen Anforderungen um patriarchale Gewalt handelt, die uns da angetan wird, weswegen wir zusammen auf die Straße gehen. Mittlerweile ist es eine Gewalt, die wir uns längst selbst antun, die also in die Subjekte selbst eingezogen ist. Das ist eine ganz andere Voraussetzung für feministische Politik. Den starken Bezug auf die Popkultur und die Individualisierung sehe ich als starkes Kennzeichen der dritten Welle der Frauenbewegung. Das birgt zwar Möglichkeiten, aber es ist auch ein bisschen kläglich, was ihre Schlagkraft als soziale Bewegung angeht.
Aber auch die zweite Welle ist ja gescheitert und hat daraufhin die dritte als ein Produkt hervorgebracht. Was waren die Gründe für das Scheitern der zweiten Welle?
Ich würde weder mit der Neuen Linken noch mit der Zweiten Frauenbewegung so hart ins Gericht gehen und sagen, dass sie gescheitert sind. Das finde ich eigentlich überhaupt nicht. Sie haben eine Menge bewirkt, wenn auch zum Teil mit einem bestimmten geschichtlichen Rückenwind: der Veränderung der Produktionsverhältnisse der 70er-Jahre, die das Hausfrau-Alleinverdiener-Modell nicht länger getragen haben. Dabei beziehe ich mich natürlich auf Westdeutschland und Westeuropa. Aber die Zweite Frauenbewegung hat sehr viel verändert und sehr viele Frauen ihrer Generation einbezogen.
Ich gehe auch deshalb nicht so hart mit ihr ins Gericht, weil die Linke sowieso diese starke Tendenz zur Selbstzerfleischung hat. Dabei ist es unglaublich schwer, eine linke Bewegung auf die Beine zu stellen, wenn man diesen geschichtlichen Rückenwind nicht hat. In den 60er- und 70er-Jahren, war es einfacher. Da gab es einen historischen Punkt, an dem es vielleicht kurz davor war umzukippen, an dem man vieles hätte verändern können. Aber an diesem Punkt stehen wir heute nicht. Heute muss man diese ganzen krassen Verteidigungskämpfe führen, um überhaupt noch etwas von dem zu behalten, was in den letzten Jahrzehnten erkämpft wurde.
Das hat auch etwas von Selbstüberhebung oder einer Art linker Allmachtsfantasie, die man heute natürlich gegen sich selbst und die anderen richtet, getreu dem Motto: „Wenn die Leute im Plenum mal wieder ordentlich ihre Aufgaben erledigen würden, dann hätten wir schon längst Sozialismus.“ Die Annahme, dass alle Welt nur warte, was die Linke macht und ob die Linke irgendwie irgendwas richtig macht, und wenn nicht, dann scheitert sie, halte ich für schwierig.
Die autoritären und reaktionären gesellschaftlichen Kräfte und die autoritär-religiösen Bewegungen sind so viel stärker als die Linke. Da kann man sich beispielhaft anschauen, was an Kollektivierung in der Zweiten Frauenbewegung funktioniert hat, was für marxistische Analysen es in der Neuen Linken gegeben hat. Es gibt genügend Leute, die Theoriearbeit leisten und versuchen, das für die heutigen Verhältnisse zu aktualisieren und zu beschreiben. Es gibt ja durchaus eine theoretische Diskussion, die auch total ergiebig ist, wenn man Zeit und Kraft hat und die Notwendigkeit sieht, sich da reinzuwurschteln. Man darf sich aber meines Erachtens nicht zu fertig machen. Das macht der Rest der Gesellschaft ja schon, wenn man Linke ist.
Hat das Stärkerwerden bzw. die Oberhand der reaktionären Bewegungen etwas mit dem Fehlen einer emanzipatorischen Linken zu tun oder wäre es falsch, das so zu beurteilen? In einigen Analysen wird das Scheitern der Neuen Linken, bestimmte bürgerliche Versprechen auf Freiheit nicht erfüllt zu haben, zum Ausgangspunkt gemacht, um zu erklären, wie solche reaktionären Bewegungen dieses Scheitern dann für sich in Anspruch nehmen konnten.
Bei Didier Eribon klingt das auch an: Weil die Linke es nicht geschafft hat, wählen jetzt alle Front National. Darin verbirgt sich auch wieder diese Größenfantasie, die Linke habe es verbaselt. Die Linke hat ihr Versprechen nicht erfüllt, weil sie höchstens in Form von Sozialdemokraten oder Grünen an die Macht gekommen ist. Das sind allerdings sehr spezielle Formen von Linken.
Da muss man nicht Jutta Ditfurth sein, um zu sehen, wie die Grünen diese Machtpolitik ausspielen, sobald sie an die Macht kommen. Ich würde sagen, dass das dem linken Projekt als Ganzem schadet, obwohl ich nicht unbedingt in Fundamentalopposition zu dem stehe, was die Grünen als Regierungspartei gerade machen. Aber es sollte doch ernüchtern oder zumindest die Frage aufwerfen, inwieweit es Sinn macht, als Linke in die parlamentarische Demokratie einzusteigen und innerhalb des Systems eine Alternative zu formulieren. Dass das total enge Grenzen hat, zeigt die Geschichte der Grünen sehr gut.
Auch hier würde ich sagen, eine schlagkräftige Linke braucht sowohl einen parlamentarischen Arm als auch einen starken außerparlamentarischen, der sehr genau weiß, wo die Grenzen parlamentarischer Arbeit liegen. Beides sollte zusammengebracht und fruchtbar miteinander diskutiert werden.
Ich komme immer mehr an den Punkt, den Feminismus und auch die Linke als eine Bewegung zu begreifen, die nicht nur frontal gegen die Verhältnisse kämpft, sondern auch als etwas, was untereinander ausgehandelt werden muss. Es kann nicht die eine Überfliegerin, Führerfigur oder die eine Theorie geben, die alles beantwortet. Vor dem Hintergrund, etwas Ähnliches erreichen zu wollen, ist es wichtig, darüber miteinander zu streiten. Was man will, muss man die ganze Zeit erstreiten. Dieses ständige Streiten und sich-aufeinander-Beziehen frisst natürlich sehr viel Energie. Die Stalinos zum Beispiel haben sie für andere Sachen übrig, aber Stalinismus ist ja auch nicht, was wir wollen.
Du hast gesagt, dass du gerade dieses Miteinander-Streiten, Debattieren als einen Ansatzpunkt der Linken verstehst, die auch miteinander kooperieren muss. Ich denke, das ist auch der Ansatz, weshalb du Feministisch streiten herausgegeben hast. Was würdest du sagen, hat sich seitdem getan? Was hat sich seit Feministisch streiten verändert?
Ich freue mich immer ganz furchtbar, wenn Leute mir erzählen, dass sie Feministisch streiten gelesen haben. Mein jüngstes Erlebnis war, dass ich in Kassel einen Vortrag gehalten habe und mich in der Kneipe mit Abiturientinnen wiedergefunden habe, die meinten, sie hätten sich durch die schwere Lektüre hindurchgekämpft, weil es als Frau heutzutage eine Notwendigkeit ist, Feministin zu sein. Das hat mein Herz tief berührt.
Es freut mich ganz ungeheuer, dass es ein paar Feministinnen oder feministische Strömungen gibt, die einen „Feminismus in streitbarer Bewegung“ vertreten und trotzdem klare Positionen beziehen. Es ist eine undankbare Position in der Debatte, weil sie manchmal uneindeutig oder „wischi-waschi“ wirkt, so, als wollte man mit allen Leuten Freunde sein. Diese Haltung ist im Feminismus recht unpopulär, weil dort immer noch ein starker Dogmatismus vorherrscht. Falls ich jemals die Größenfantasie hatte, diesen aufzubrechen: Es ist mir nicht gelungen.
Vor allem, was den queerfeministischen Dogmatismus angeht, ist es wirklich schwierig, theoretisch zu Potte zu kommen oder überhaupt inhaltliche Bestimmungen zu treffen. Weil sich der Queerfeminismus vor allem auf Diversität und Vielfalt bezieht und dieses Begehren weniger Verstehen der Gesellschaft als Inklusion ist, spielt sich die Debatte auf einer ganz anderen Ebene ab. Andererseits formiert sich wieder ein Radikalfeminismus, der viele Positionen vertritt, mit denen ich gut mitgehen kann – wie eine scharfe Prostitutionskritik oder feministische Islamkritik –, sich aber sehr stark über Transfeindlicheit konsolidiert, was ich sehr, sehr schade und beschissen finde. Diese Aktivistinnen werden mir auch leider immer unsympathischer, weil es auch ein krasser Dogmatismus ist und ein Zusammengehen mit gesellschaftlichen Positionen, die ich total beschissen finde. Wenn man sich weder auf einen queerfeministischen Menschenverstand noch auf einen radikalfeministischen Frauenverstand festlegen möchte, steht man in einer undankbaren Position in der Debatte.
Aber das finde ich in Ordnung, weil ich denke, es ist schon etwas Schwieriges, sich als Frau hinzustellen und sich anzumaßen, theoretisch zu denken und zu hoffen, damit etwas fassen zu können, das auch für andere Leute interessant ist. Und ein bisschen Krawallschachtel und Skandalnudel zu sein, das ist ja auch etwas, wovon man zehren kann, wenn man darauf steht.|P
1 Rosa Luxemburg: „Die Proletarierin“, ursprünglich in: Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 27 (5. März 1914). Heute zu finden in: Rosa Luxemburg Gesammekte Werke (Bd. 3), Hrsg. Annelies Laschitza und Günter Radczun, Berlin 1973, S. 410–413.
2 Koschka Linkerhand (Hrsg.): Feministisch Streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin 2018, S.42–43.
3 © Inge Werth, ISG S7Wer 00062 Frauen demonstrieren in der Frankfurter Innenstadt gegen den Paragraph 218, CC BY-SA 4.0