Das Scheitern der Antideutschen
von Michael Fischer
Die Platypus Review Ausgabe #17 | Winter 2022
„Wer sind die überhaupt, diese Antideutschen? Vielleicht alle und die Regierung vornedran.“
Wolfgang Pohrt1
Die Antideutschen sind gescheitert, erfährt man in der vergangenen Ausgabe der Platypus Review. Einem Befund, dem man gemessen am eigenen Anspruch der Antideutschen, das Abbruchsunternehmen der Linken zu sein, nicht groß widersprechen kann. Die Linke erfreut sich eines mittlerweile gesamtgesellschaftlich populären Fortwesens und verkam trotz aller Interventionen zum letzten ideologischen Abwehrbollwerk der im Niedergang begriffenen neoliberalen Ordnung. Für Platypus-Aktivist Max Hörügel rührt das Scheitern jedoch daher, dass schon die frühen Antideutschen nicht vermocht hätten, was im Grunde die Zielvorstellung jener Organisation ist, der er selbst angehört und die ihre idealisierten Wunschkonzerte seit nun 15 Jahren auch nicht verwirklichen konnte: die Arbeiter zu einem bewussten gesellschaftlichen Akteur zu formen und in Richtung Revolution anzuführen. Kurzum: Eine Kaderpartei aufzubauen, der dann qua magischer Hand die werktätigen Massen folgen, weil ein paar Studenten von Sozialismus träumen und Vorträge darüber halten. Nicht so gerne spricht man dagegen über den Antisemitismus innerhalb der Linken. Augenfällig wird dies, wenn der Artikel nur am Rande die Begeisterung für den antiimperialistischen Kampf der Neuen Linken thematisiert. Die in den Metropolen enttäuschte Hoffnung auf den Sozialismus sei lediglich in andere Weltgegenden verschoben worden – so lautet zumindest die wohlmeinende Interpretation.
Der keine Irritation erweckende Schauplatzwechsel von Vietnam nach Palästina lässt jedoch auch auf anderes schließen. Vielleicht war es der antizivilisatorische und antiwestliche Unterstrom, von dem Adorno sprach, der die Begeisterung für antikoloniale Kämpfe bei jenen entfachte, die einem Milieu entsprangen, das sich nur wenige Jahrzehnte zuvor in großem Maße für den Nationalsozialismus begeisterte. Was der studentischen Jugend an Deutschland abging, der Kampf gegen den Westen, den Mammon und die Juden, die man jetzt Zionisten nannte, fanden sie im trikontinentalen Nationalismus wieder, der mit dem „faschistischen Wunschbild“ (Adorno) verschmolz:
Einverständnis mit denen, die in der imperialistischen Konkurrenz sich zu kurz gekommen fühlten und selber an den Tisch wollten, drückte schon während des Krieges in den Slogans von den westlichen Plutokratien und den proletarischen Nationen sich aus.2
Hörügels Kritik trifft selbst dort nicht so ganz, wo sie zumindest dem Anschein nach etwas Richtigem auf der Spur ist, etwa dem Mitschleifen des schlechten Erbes der Neuen Linken mit Blick auf die Arbeiterklasse. Die Auslagerung der Produktion in die kapitalistische Peripherie, die auf den Öl-Schock 1973 folgte, hintertrieb zunehmend die Streikfähigkeit des Proletariats im Westen. Das von postmodernen Vordenkern proklamierte Ende des Subjekts affirmierte diese sich abzeichnende Niederlage und verhalf der linksliberalen Identitätspolitik zum Durchbruch. Die spezifisch antideutsche Ausformung davon durchschaute Wolfgang Pohrt schon vor knapp 20 Jahren. Im Nachgang einer völlig schiefgelaufenen Veranstaltung, bei der er zusammen mit Henryk Broder das herbeigeeilte antideutschen Publikum offensiv vor den Kopf gestoßen hatte, polemisierte er in seinem Buch FAQ gegen jene Linke, als deren Vordenker er galt:
Während die Arbeitslosen auf den Status von Almosenempfängern zurückgeworfen werden und die arbeitende Bevölkerung zwecks Altersvorsorge zum Kauf von Spekulationspapieren angehalten ist, welche dem Verkäufer einen Platz an der Sonne und dem Besitzer einen im Armenhaus sichern, währenddessen also kennt diese Linke keine Klassen mehr, nur noch Rassen.3
Eine Vielzahl jener pop-antideutschen Linken, die damals noch mit blau-weißen Fahnen gegen Antisemitismus, Rassismus und deutsche Zustände zu Felde zogen, aber von Klasse und Ausbeutung nichts wissen wollten, entdeckten wohl aufgrund ihrer prekären Uni-Jobs ihre Liebe zu Gender-Sternchen, Hautfarben und skurrilen Minderheiten. Wem die akademische Karriere trotz emsigsten Anpassungswillen verwehrt blieb, landete bei den Grünen oder stritt in der Linkspartei für deren Grünifizierung. Die Antideutschen zerfielen derweil schon Mitte des vorletzten Jahrzehnts in eine Soft- und Hardcorefraktion, wobei letztere von der Bezeichnung antideutsch zunehmend Abstand nahm und sich ausschließlich als ideologiekritisch verstand. Im Streit darum, ob die angeblichen Leerstellen des Deterministen Adorno um den Freiheitsbegriff von Sartre zu erweitern seien, gründete sich die leicht einschläfernde Zeitschrift sans phrase in Wien und während der Flüchtlingskrise vollzog sich eine Spaltung in Links- und Rechtsantideutsche. Zwar bleibt dies alles im Dunkeln, dafür verrät der Text einiges über Platypus selbst. Nicht mehr die sich verändernden ökonomischen Konstellationen, die die materialistische Kritik der Gesellschaft, die auf den Kommunismus zielt, unentwegt in sich aufnehmen muss, um nicht falsch zu werden, sind Richtschnur des eigenen Handelns und Denkens, sondern unter spezifischen Bedingungen gemachte Erkenntnisse, die zu doktrinären Ideen gerinnen. Selbst der historische Materialismus regrediert zu einer Spielart des Idealismus, wenn er als verdinglichte Theorie keine Erfahrungen mehr in sich aufnimmt, die diese verändert, damit der Dialektik entschlägt und wie der von Platypus bemühte Georg Lukács, dies der erst zu verstehenden Gesellschaft von oben herab überstülpt. Gegen diesen zur Dogmatik erstarten Materialismus gerichtet, schrieb Friedrich Engels kurz vor seinem Tod in einem Brief an Werner Sombart:
[D]ie ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung.4
Die aktuelle gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der radikalen Linken, auch die des kommunistischen Resthaufens, resultiert auch aus dem notorischen Unwillen, überhaupt verstehen zu wollen, unter welchen Verhältnissen sie agieren. Jener Hang zum Idealismus folgt aus einer unhinterfragten Klassenlage als geistige Arbeiter, die unbewusst von der verändernden Kraft der Ideen ausgehen, weil sie selbst nichts anderes produzieren. Dieses auch an Platypus vermachte Erbe der Neuen Linken, sich vollständig aus Angehörigen der neuen Mittelklasse zusammenzusetzen, erklärt deren Abwehr in Bezug auf die Kritik an der PMC. Eine Kritik, die Barbara und John Ehrenreich aus einer materalistischen Klassenanalyse des Progressivismus um 1900 und der Neuen Linken entwickelten. Sie warnten davor, dass linke Ideologie, sofern sie ihre Klasseninteressen nicht begreife, Gefahr laufe, anstelle einer Diktatur des Proletariats eine Diktatur der PMC zu etablieren. Denn auch die Idee der Kaderpartei ist von einer Verachtung gegenüber den Arbeitern getragen. Bestechlich und leicht beeinflussbar brauchen sie nur die richtige Führung, die sie gen Sozialismus bringt.
In Zeiten verschärfter ökonomischer Ungleichheit, in der sich die kapitalistischen Widersprüche nicht zu Widersprüchen gegen ihn fortentwickeln, weil die Antagonismen zunehmend ideologisch und immer weniger sozialstaatlich stillgestellt werden, ist es jedoch unerheblich, „ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist.“5 Bei dieser Sistierung der Klassengegensätze spielt die neue Mittelklasse, die im Gegensatz zum Kleinbürgertum über keine Produktionsmittel verfügt, beginnend mit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Die Klassenlage von Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen, Schauspielern, Journalisten und Ingenieuren weist ihnen die Aufgabe zu, die Reproduktion der kapitalistischen Kultur und die der Klassenbeziehung sicherzustellen. Daraus folgt die Wunschvorstellung einer harmonisch und pluralistisch eingerichteten Gesellschaft, die ihren Ausdruck in einem spezifischen Antikapitalismus findet, der sich gegen die möglichen egoistischen und zugleich spalterischen Zielsetzungen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse richtet.
Zu intervenieren wäre gegen jene linken und linksliberalen Akteure, die die wachsenden ökonomischen Verwerfungen hinter Ausgrenzungskategorien zum Verschwinden bringen und damit als ideologische Blitzableiter der Gesellschaftskritik fungieren. Die aktuellen Kulturkämpfe entspringen den Klasseninteressen der PMC auf der Linken und des alten Kleinbürgertums auf der Rechten, denen mit einer Fokussierung auf vermeintlich rein ökonomische Fragen deshalb nichts entgegenzusetzen ist, weil sie selbst Ausdruck davon sind. Die postmoderne Identitätspolitik entpuppt sich dabei als kümmerliches, aber überaus kostengünstiges Emanzipationsversprechen des Kapitalismus, die die gerechte Verteilung des Elends nach Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung verspricht und damit die Ausbeutung verewigt und hierarchisiert statt aufhebt. Die Kritik daran und an der Linken, die dies mitträgt, ist ein durchaus verzweifelter Versuch, die Grundlage für radikale Gesellschaftskritik wieder herzustellen. Platypus erscheint dies jedoch als per se falscher Kampf, der nur die Entgegensetzung der Identitätspolitik für Arbeiter gegen jenen für Minderheiten befeuere. So ist man fein raus aus der Beschäftigung mit den aktuellen Verhältnissen und kann sich wieder den Texten im Lesekreis widmen, die nicht jünger als 50 Jahre sein dürfen.|P
Michael Fischer hat Politikwissenschaft, Germanistik und Geschichte studiert und lebt in Wien. Seine Texte erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift Bahamas. Dieser Text ist eine Replik auf Max Hörügels Artikel Die frühen Antideutschen und die Arbeiterklasse, der in der PR #16 (Herbst 2021) erschienen ist.
1 Wolfgang Pohrt: „FAQ”, in: Wolfgang Pohrt Werke (Bd. 9), Hrsg. Klaus Bittermann, Berlin 2021, S. 25.
2 Theodor Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Hrsg.: Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 565.
3 Pohrt: „FAQ“, S.28.
4 Brief von Friedrich Engels an Werner Sombart am 11.03.1895, in: Karl Marx/Friedrich Engels — Werke (Bd. 39), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1968, S. 428.
5 Karl Marx, Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten“, in: Karl Marx/Friedrich Engels — Werke (Bd. 3), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1978, S. 39.