Die Administration des Widerstands. Zum Verlust des Politischen im 20. Jahrhundert
Von Frederik R. Heinz
Die Platypus Review Ausgabe #10 | Winter 2018
Die vergangenen 10 Jahre sind gezeichnet von globalen politischen Verschiebungen, die 2016 mit der US-Präsidentschaftswahl und dem Brexit-Votum am klarsten zum Vorschein kamen. Spielte Deutschland zwar eine Schlüsselrolle in der gesamten Krisen-Politik der EU, sind die innenpolitischen Auswirkungen erst seit der aktuellen Koalitionskrise wirklich spürbar. Die AfD ist inzwischen in allen 16 Landtagen vertreten; das erneute Zustandekommen der großen Koalition musste sich gegen heftige Ablehnung auf beiden Seiten durchsetzen; in der SPD herrscht Skepsis, ob die Partei in einer Regierungsbeteiligung ihr eigenes Überleben sichern kann. Bei der vergangenen Landtagswahl in Hessen mussten beide Volksparteien schließlich einen Verlust von zusammen 22% hinnehmen. Die so offen katastrophale Lage verschärfte die Koalitionskrise bis hin zu den angekündigten Rückzügen von Angela Merkel und Horst Seehofer, während Andrea Nahles (stellvertretend für die gesamte SPD) einen schier hilflosen Eindruck machte. In Hessen büßten die Sozialdemokraten gar den zweiten Platz ein, welcher mit einem Vorsprung von 94 Stimmen an die Grünen ging – diese sind damit neben der AfD die größten Profiteure der Koalitionskrise. In der an den Wahlabend anschließenden Diskussionsrunde bei Anne Will erklärte der grüne Bundesvorsitzende Robert Habeck diesen Gewinn mit dem in der Bevölkerung wachsenden Verlangen nach Politik statt Verwaltung.[1] Entgegen den primär technischen Lösungsvorschlägen von CDU/CSU und SPD müsse man wieder über Visionen streiten. Ob die Grünen nun alternative Visionen verfolgen oder nicht, die von Habeck gezogene Unterscheidung von Verwaltung und Politik verweist auf ein tatsächliches Problem des Politischen.
Es ist mitunter die Mobilmachung gegen die technisierte und verwaltende Politik, welche Rechtspopulisten zurzeit bemüht sind, gegen das politische Establishment in Stellung bringen. Zu denken, mit „Establishment“ sei direkt die ökonomisch herrschende Klasse gemeint, ist ein politisches Fehlurteil. Denn im Zentrum steht die Unterscheidung von Politik und einem administrativen Politikapparat. Es handelt sich dabei um jene Unterscheidung, die sich im 20. Jahrhundert von verschiedenen Seiten zur dominantesten Kritikform des Politischen entwickelte. Im Zentrum steht die tendenziell zunehmende Herrschaft von gesellschaftlichen Verwaltungsmechanismen, welche auf die Politik übergreifen und, je nach Diagnose und Zeitpunkt, diese entweder allmählich ersetzt oder bereits gänzlich ersetzt hat. Dieses Urteil findet sich in konservativer Couleur am prominentesten bei Hannah Arendt; in den Begriffen totaler Machtordnungen der französischen Denker; in der Tendenz zur verwalteten Welt in der Kritischen Theorie; schließlich affirmativ als Einheit im Ordo-Liberalismus, der sich als Herrschaftsstrategie in Zeiten der Massengesellschaft inszenierte. Die verwaltete Gesellschaft ist ein oft geteilter Gegenstand der Kritik. Die wirklich zentrale Frage, bei der sich sofort die politischen und theoretischen Differenzen offenbaren, ist allerdings die Bestimmung eines Politikbegriffs, welcher sich der gegenwärtigen Verwaltung seines Gegenstandes zu entziehen versucht.
Politik als Vermögen
Für Arendt etwa besteht das Kernelement des Politischen im Vermögen, in und aus Freiheit Neues zu erschaffen. Das ist die zentrale These ihrer Studie On Revolution. Obgleich Arendt im Kanon der politischen Theorie (zurecht) dem konservativen Lager zugerechnet wird, schwärmt das Buch für die revolutionären Bewegungen der Neuzeit, begibt sich auf die Suche nach dem revolutionären Geist und endet mit einem Plädoyer für ein föderalistisches Rätesystem. In den Revolutionen sieht Arendt das unerlässliche Streben nach Freiheit. Dieses Streben zielt auf die für Arendt vielleicht wichtigste Frage ihres Denkens, nämlich jene nach einer freiheitlichen und Freiheit garantierenden Ordnung der Gesellschaft – der „Constitutio Libertatis“.[2] Mit anderen Worten: Arendt fragt nach dem, was nach der Revolution kommt; das Neue, das zu errichten die Revolution angetreten ist. Deshalb sind Revolutionen für Arendt der moderne Ausdruck des Politischen par excellence. "Revolutions are the only political events which confront us directly and inevitably with the problem of beginning."[3] In dem Beginnen einer neuen Ordnung sieht sich die Revolution dem Problem gegenüber, dass sie den politischen Raum der Freiheit auch nach der Revolution noch weiter sicherstellen muss. Das Nachdenken über die entsprechenden Institutionen, die dafür nötig sind, bilden die Grundsäulen für Arendts Republikanismus. Die Errichtung dieser Institutionen sieht sie einzig mit der amerikanischen Verfassung geglückt, im Verlauf der Geschichte aber korrumpiert, während ihr Frankreich schnell als hoffnungsloser Fall erscheint. Aber im Prinzip zeigt sich Arendt einig mit sowohl amerikanischen als auch französischen Revolutionären: "The Americans would […] have agreed with Robespierre on the ultimate aim of revolution, the constitution of freedom, and on the actual business of revolutionary government, the foundation of a republic."[4] Wichtiger aber als die konkrete Ausformung und institutionelle Verwirklichung, die Arendt hier vorschlägt, ist die Verquickung von Revolution und Freiheit, die hierin Anerkennung findet. Arendt betont immer wieder den schöpferischen Akt der Revolution, den schöpferischen Akt der Politik. Besser als manch anderer Theoretiker des 20. Jahrhunderts wusste sie: "The end of rebellion is liberation, while the end of revolution is the foundation of freedom."[5] Versuche, diese Freiheit zu verwirklichen, bilden für Arendt die wichtigen Beispiele der Neuzeit: Von Jefferson und Robespierre über die Pariser Kommunarden bis zu den Sowjets.
Das Grundmotiv des Politischen bleibt hingegen die griechische Polis. Diese Tatsache verweist direkt auf die Schwäche ihrer Theorie. Arendt erkennt, dass Politik schöpferisch sein muss – dass Politik und Freiheit zusammengehören –, kann aber die Schöpfung selbst nicht erklären. Wo kommt sie her und wer übt sie aus? So wie ihre Technikkritik stark von Heidegger beeinflusst bleibt, scheint ihre Politikvergessenheit als Variation der heideggerschen „Seinsvergessenheit“: Es gilt, sich der Polis zu erinnern. Das Politische erhält ontologischen Status und scheint in der Geschichte auf als Ereignis. Um eine Vermittlung der antiken Polis mit der Moderne wird sich gar nicht erst bemüht, ebenso wenig wie um die Untersuchung des Subjekts, das den politischen Zustand heraufbeschwören soll, über welches Arendt nur gerade so viel sagt, dass es eben öffentlich (in der Agora) erscheinen müsse. Das Politische haftet an Arendts zoon politikon geradezu als menschlicher Trieb, kann und soll gerade explizit nicht vom Sozialen hergeleitet werden.
Politik als Widerstand
Eine andere Schlussfolgerung der sozialen Verwaltungstheorie zogen prominente Theoretiker der Neuen Linken. 1975 formulierte Michel Foucault in Überwachen und Strafen sein Modell der Disziplinarmacht. Im Fokus steht die Schlüsselfrage, der Arendt auswich: Die nach der Subjektivierung. Allerdings brachte seine Beantwortung dieser Frage Foucault dazu, die Möglichkeit der Politik im arendtschen Sinne zunächst gänzlich auszuschließen.
Mit der Disziplinarmacht beschrieb Foucault eine soziale Ordnungsstruktur, die derart streng die Imperative der Disziplin durchsetzt, dass keinerlei Freiraum für Handlungen jenseits dieser Ordnung übrigbleibt. Die Disziplinarmacht erstickt vollständig alle Spontaneität – in der Foucault-Rezeption wurde diesem Urteil mit dem Stichwort „Tod des Subjekts“ Rechnung getragen. Dass unter diesem Machtbegriff nicht jenseits der Macht gehandelt werden kann, bedeutet nicht zwangsläufig, dass nicht gegen sie gehandelt werden kann. Es bedeutet aber, dass das Subjekt über kein Vermögen verfügt, über den einfachen Widerstand hinaus der Ordnung etwas Eigenes entgegenzusetzen.
Dem Subjekt der Disziplinarmacht fehlt also genau das, was Arendt als Bedingung des Politischen ausmachte: das schöpferische Vermögen, eine eigene Ordnung herzustellen. Hauke Brunkhorst sieht genau darin die Schwäche von Foucaults Machtbegriff: „Politisch bleibt dem Theoretiker des totalen Macht-Diskurses freilich nur die Wahl zwischen Resignation und Anarchismus. Foucault hat sich zumeist für den letzteren entschieden, für die Aufstände und Bewegungen der Antipsychiater, der Schüler und Studenten, der Homosexuellen und Frauen, der Kranken und Gefangenen. […] Es handelt sich um eine Revolte ohne politisches oder soziales Programm.“[6] Der bloße Widerstand, ohne Möglichkeit der Freiheit, bleibt abstrakte Negation. Aber „Befreiung war für die Linke seit 1789 immer die bestimmte Negation, die Befreiung von bestimmten, historischen Formen politischer Herrschaft und sozialer Ausbeutung. Zur Debatte stand die Unterdrückung des humanen Potentials der Menschen, nicht Unterdrückung schlechthin.“[7] Obschon Foucault gegen Ende der 1970er Jahre, der Denkphase von Gouvernementalität und Biopolitik, dem Subjekt mehr Freiräume zuzusprechen versuchte, bleibt dieses weiterhin im Geflecht totaler Machtverhältnisse eingespannt. „Für Foucault gibt es […] keinen eigenen Raum politischer Freiheit.“[8]
Freilich hielt das weder Foucault davon ab, von Politik zu sprechen, noch pseudo-politische Bewegungen, sich auf Foucault zu berufen. Doch was er als Politik verstand und worin er sich politisch engagierte, blieb von diesem Mangel gebrandmarkt. Die Freiheit seines Subjekts bleibt unbestimmt, eine leere Freiheit. Symptomatisch verklärte Foucault 1978 und 1979 die iranische Revolution als eine sich den westlichen Kräften entgegenstellende und deshalb freiheitliche Widerstandsbewegung. Durch einen depolitisierten Politikbegriff liebäugelte Foucault in Richtung einer „political spirituality“[9] und meint damit die brutale Herrschaft des just an die Macht gekommenen Mullah-Regimes.
Mit einem abstrakten und leeren Freiheitsbegriff werden Widerstandsformen als unmittelbar politisch verstanden. Frank Ruda hat Recht, wenn er mit Blick auf Foucault schreibt: „When it is the most apolitical, its favorite slogan is ‚everything is political.’“[10] Denn der Aufstand als rein negative Kraft ist nicht schöpferisch; das Subjekt des Aufstandes verfügt über kein schöpferisches Vermögen. Es gilt, was Christoph Menke dem postmarxistischen Subjekt diagnostiziert: Die Gründung einer neuen Ordnung „vermag das Subjekt der leeren, unbestimmten Freiheit nicht, denn es vermag – nichts."[11] Der Aufstand, der ohne schöpferisches Vermögen zum „Aufstand in Permanenz“[12] und somit zur Niederlage in Permanenz wird, müsste aus dem reinen Aufstand heraustreten, um potentiell politisch zu werden.
Integration ins Unpolitische
Dieser Schluss wird heute – wo überhaupt – auf pervertierte Art gezogen und fundamental missverstanden, nämlich so: Eine soziale Bewegung ist dann erfolgreich, wenn sie Wiederhall in der parlamentarischen Politik findet. Diese Vorstellung zeugt von einer pervertierten Politisierung, da diese Bewegung nichts anderes als die Integration des vorpolitischen Widerstands in die un- und antipolitische Verwaltungsstruktur bedeutet.
Es gibt keinen guten Grund anzunehmen, die Grünen in Deutschland oder die Demokraten in den USA würden der technisierten Politik einen Raum des Politischen entgegenstellen. Die Integration in diese Parteien ist nicht die Beflügelung, sondern der Friedhof sozialer Bewegungen – und die Parteien wissen derlei Bewegungen für sich zu nutzen. Die Organisation bzw. Vereinnahmung des Women’s Marchs, der #MeToo-, sowie der Black-Lives-Matter-Bewegung durch die Demokraten sind nur einige eindrucksvolle Beispiele. Pseudopraxis, oder „politische Ersatzbefriedigung“[13], verwandelt sich nicht in politische Praxis, weil sie im Staat eine Reaktion hervorruft; nicht einmal, wenn sie ihn zu dieser zwingt. Die Integration kann weitgehend glücken, da weder die zu integrierende Bewegung noch die integrative Parteienpolitik einen politischen Begriff von Freiheit verfolgen. Der Widerstand kann administriert werden, weil er sich nie gegen die Administration richtete. Das Erbe des Politischen, das Arendt richtig in den Revolutionen festmachte, ist heute zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Aufgabe des Politischen bleibt bis heute ungelöst; und wo Pseudo- und Antipolitik als Politik sich ausgeben können, rückt der Aufgaben Lösung in ungreifbare Ferne. |P
2 Hannah Arendt: On Revolution. London 1962, S. 154.
3 ebd., S. 21
4 ebd., S. 141.
5 ebd., S. 142.
6 Hauke Brunkhorst: Ästhetik der Existenz. Hannah Arendt, Michel Foucault, die Griechen und wir. In: Revue Internationale der Philosophie, Vol. 53, No. 208 [2]. 1999, S. 228.
7 ebd.
8 ebd., S. 237.
9 Michel Foucault: What are the Iranians dreaming about? (1978) https://www.press.uchicago.edu/Misc/Chicago/007863.html
10 Frank Ruda: First as Politics, then as Art. In: Stasis, Vol. 4, No. 2. 2016, S. 10.
11 Christoph Menke: Die Möglichkeit der Revolution. In: Merkur. 2012, S. 58.
12 ebd.
13 Vgl. Ruda: First as Politics, S. 18.