Auszug aus Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution Bini Adamczak
Bini Adamczaks neu erschienenes Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution nimmt sich ihrer Geschichte an, um die potentiellen, aber nicht realisierten Möglichkeiten des historischen Moments erfahrbar zu machen. Mit der freundlichen Zustimmung des edition assamblage Verlags sowie Adamczak selbst kann hier ein kleiner Auszug aus dem Kapitel Auswege 2: Land (S. 73-85) abgedruckt werden.
Taschenbuch, 152 Seiten | 12.80 Euro | ISBN 978-3-96042-026-2
Die Platypus Review Ausgabe #7 | Januar 2018
Die Landfrage war die entscheidende Frage der Russischen Revolution. Zumindest wenn es sich bei der Revolution um die „selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (Marx/Engels MEW 4, 473) handeln sollte. Denn diese ungeheure Mehrzahl lebte auf dem Land. Während in Frankreich noch 55 Prozent der Bevölkerung in Dörfern wohnten, in Deutschland 40 und in England 20 Prozent, waren es in Russland über 80 Prozent (vgl. Altrichter/ Haumann 1987, 7). Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Bäuerinnen in Leibeigenschaft leben müssen, deren Aufhebung 1861 unter der Bedingung erfolgte, das selbst bestellte Land den Adligen abzukaufen. Damit waren die Bäuerinnen in ein Schuldverhältnis geraten, das zusammen mit der staatlichen Steuerlast die ohnehin drückende Armut noch weiter vergrößerte. Um ihr Elend zu mildern, waren sie gezwungen, entweder als Lohnarbeiterinnen auf dem adligen Land zu arbeiten oder Teile dieses Lands zu pachten — eine Spirale der Verarmung (vgl. Perrie 1972, 124). Im Gegensatz zu Westeuropa waren die Pflüge in Russland meist aus Holz, die bei Pferdemangel zudem von Menschen gezogen werden mussten. Statt der Sense wurde jene kleine Sichel benutzt, die später auf der Fahne der UdSSR konserviert werden sollte. Da eine technische Produktivkraftsteigerung für die relativ abgeschieden lebenden Landwirte nur sehr begrenzt möglich war, bestand die einzige Möglichkeit, die ökonomischen Probleme zu lindern in Vergrößerung der Anbaufläche. Enteignungen des fruchtbaren Großgrundbesitzes waren somit die erste Maßnahme aller Bauernrevolten. So während der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1905 und so in der Revolution von 1917. Doch die traditionell am stärksten unter den Bäuerinnen verankerte Partei, die Sozialrevolutionäre, wollte die Landfrage bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung aufschieben, um ihre Beantwortung demokratisch zu legitimieren. Die Bolschewiki hingegen, die in ihrer Orientierung auf das Industrieproletariat eine eher abwertende Haltung Landbevölkerung einnahmen, machten sich die Forderungen der Bauernräte zu eigen. Ihre zentrale Sprengkraft erkannte Lenin noch im September 1917, als er aus seinem Versteck heraus schrieb: „In Russland ist die Revolution zweifellos an ihrem Wendepunkt angelangt. In diesem Bauernland [...] wächst ein Bauernaufstand heran. Dies ist unglaublich, aber es ist eine Tatsache“ (z. n. Materialien, 12). Das erste Dekret, das der bolschewistisch dominierte zweite Allrussische Rätekongress im November 1917 verabschiedete, hob das „Eigentumsrecht der Gutsbesitzer an Grund und Boden [...] unverzüglich und ohne Entschädigungszahlungen“ auf. Das mit Lenins Unterschrift versehene Dekret erklärte eine Zusammenstellung von 242 lokalen Bauernbeschlüssen zum „Willensausdruck der überwältigenden Mehrheit der politisch denkenden Bauern ganz Russlands“ und damit zum Staatsgesetz (Altrichter/Haumann 1987, 25ff.).
Doch das gute Verhältnis zwischen Bolschewiki und Bäuerinnen währte nicht lang. Als es in den Städten zu Lebensmittelknappheit kam, gab die leninistische Fraktion der Bolschewiki den Dorfbauern die Schuld. Trotz der innerparteilichen Opposition der linkskommunistischen Fraktion erklärten sie, die reichen Dorfbauern hielten das Getreide zu Spekulationszwecken zurück und riefen gegen den Widerstand der Linken Sozialrevolutionäre (vgl. Rabinowitch, 360ff.) zur Requisition von Nahrungsmitteln aus. „Genossen Arbeiter,“ hieß es in einem solchen von Lenin unterzeichneten Aufruf vom Mai 1918, „wenn man bei der Dorfbourgeoisie Brot nicht mit den üblichen Mitteln erhalten kann, muss man es eben mit Gewalt nehmen.“1 Der Aufruf schloss mit Zeilen, deren Identitätslogik den Zusammenhang von internationaler Konterrevolution und innerer Reaktion demonstriert. „Kampf um Getreide“, deklarierte Lenin, „bedeutet jetzt Kampf gegen die Konterrevolution, die bereits in Finnland, in der Ukraine und auf dem Baltikum triumphiert, bedeutet Kampf um die Sowjetmacht, um den Sozialismus“ (Lenin 1918a, 59).
Die Lenin’sche Gleichung (Kampf um Getreide = Kampf um Sozialismus) verbirgt den banalen Gedanken, dass die Revolution keinen Erfolg haben konnte, wenn sie nicht das Hungerproblem der Städte löste. Je weniger erfolgreich der Staat bei seinem Versuch war, die Arbeiterinnen mit zentralisierter und unentgeltlicher Lebensmittelversorgung zu ernähren, umso häufiger verließen sie ihre Arbeitsplätze für „Besorgungsfahrten“ aufs Land. Das beeinträchtigte zugleich die Rüstungsproduktion für den Bürgerkrieg. Doch mit dem Gleichheitszeichen, das Lenin zwischen das ökonomische Problem des Hungers und das militärische Problem der Weißen Armee setzte, brachte er alle politischen Möglichkeiten, die die historische Situation bot, zum Verschwinden.
Erstens spielten die Dorfbourgeois, das heißt Agrarkapitalistinnen, die auf ihren Höfen Landarbeiter beschäftigen, in Russland nur eine regional begrenzte Rolle. Zwar war die Anzahl von Lohnarbeiterinnen in der Landwirtschaft zwischen 1850 und 1914 stark gestiegen, angesichts der Größe der Bauernschaft in Russland erschien sie aber weiterhin marginal: nur zehn Prozent aller Höfe konnten überhaupt Überschüsse für den Markt erwirtschaften (vgl. Dahlmann 1986, 51f.).
Zweitens leugnete Lenin mit der behaupteten Nähe der Dörfer zur Konterrevolution eine offensichtliche politische Wahrheit: Noch auf dem Höhepunkt der Konflikte zwischen Weißen und Roten unterstützten die Bäuerinnen immer die Kommunisten gegen die Konterrevolution, die die Enteignungen zurückzunehmen drohte. Zudem waren Ignoranz oder Feindschaft des Landes gegenüber der Stadt keineswegs so total wie die kriegskommunistische Propaganda glauben machen wollte. In einem der vielen Briefe von Bäuerinnen, den die Bauernsektion der sowjetischen Regierung zugeschickt bekam, hieß es:
„Wir haben kein Getreide versteckt. Wir behielten einen Jahresvorrat von neun Pud pro Person, wie angeordnet. Dann erhielten wir ein Dekret, nur sieben Pud zu behalten und zwei abzuliefern. Das taten wir. Doch die Bolschewiki kamen mit ihren Trupps. Sie machten am Ende alles kaputt. Wir machten einen Aufstand. [...] Wir wurden mit Artillerie beschossen. Ganze Dörfer stehen in Brand. Unsere Häuser wurden niedergebrannt. Wir haben doch auf fast alles verzichtet — wir wollten, dass alles gut wird. Wir wussten, dass die Städte hungern, wir schonten uns nicht“ (z. n. Rabinowitch, 383).
Die Requisitionen zu denen Lenin aufrief, eröffneten den Kriegskommunismus, das heißt den Krieg der Städte gegen die Dörfer. Allein zwischen Mai und Juni 1918 kam es zu 110 Aufständen von Bäuerinnen, die mit Geiselnahmen, Giftgas und Massenerschießungen niedergeschlagen wurden (vgl. Werth 1998, 82, 127). Der Kriegskommunismus konnte den Hunger der Städte nur auf Kosten der Dörfer lindern. Die massiven Hungerkatastrophen auf dem Land führten 1921 zur Einführung der Neuen Ökonomischen Politik, die unter der Diktatur der Partei freien Handel erlaubte und die Entstehung einer neuen bürgerlichen Schicht ermöglichte. Der Kriegskommunismus war gescheitert. Doch die Feindschaft gegenüber den Bäuerinnen, auf der er beruhte, blieb erhalten und sollte während der 1930er Jahre in den stalinistischen Kampagnen der „Entkulakisierung“ in noch brutalerer Form wiederkehren. Hundertausende fielen ihr zum Opfer.
Das Verhältnis von Stadt und Land, von Arbeiterinnen und Bäuerinnen ist zentral für das Verständnis der Russischen Revolution wie für ihr gewaltsames Scheitern. Jahrzehntelang war es geprägt von der Option Kriegskommunismus oder Kapitalismus. Entsprechend dringlich erscheint die Suche nach einem dritten Weg.
In Russland war das Verhältnis der städtischen Intelligenz, ob sozialistisch oder liberal, zum Land immer von einer großen Kluft geprägt. Selbst russische Adlige, die in kleineren Provinzstädten lebten, behaupteten mit einer sehr sprechenden Metapher, vom dortigen Land nicht mehr zu verstehen als von Zentralafrika. Entsprechend projektiv waren die Bilder, die sich Intellektuelle von den Bäuerinnen machten, die sie entweder verteufelten oder vergötterten (vgl. Figes 2008, 63, 103). In der Phantasie der Narodniki etwa, der Volkstümlerbewegung, die bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts die zentrale revolutionäre Kraft war, verkörperte das Dorf das gute, edle und reine Russland, das lediglich von der zaristischen Okkupation befreit werden müsse. Die mehrheitlich studentischen Aktivisten übersahen sowohl die extreme Patriarchalität als auch die allgemeine Fremdenfeindlichkeit des Dorfes. Dieses Versäumnis wurde ihnen bewusst, als sie 1870 den Versuch unternahmen, mittels Aufklärung und praktischer Kooperativen das Land zu befreien, nur um mittels Brand- und Mordanschlägen bald wieder vertrieben zu werden (Figes 2008, 101 f.). Die Enttäuschung war so groß wie die vorherige Illusion. Sie verhalf einem auf westliche Modernisierung ausgerichteten Marxismus in Russland zum Durchbruch.
In der Folge entwickelte sich die Landfrage zu einem zentralen Streitpunkt zwischen Sozialdemokratinnen auf der einen, Narodniki, und später Sozialrevolutionärinnen auf der anderen Seite. Der Streit drehte sich erstens darum, ob der Kampf der Bäuerinnen, wie es das marxistische Zwei-Phasen-Modell vorsah, nur ein antifeudaler war oder zugleich auch ein antikapitalistischer (vgl. Perrie 1972, 130f.). Er wurde zweitens darum geführt, ob die städtischen Arbeiterinnen noch Bäuerinnen waren, ob sie also enge ökonomische, soziale und kulturelle Kontakte zum Land unterhielten oder sich von diesem radikal abgewendet hatten und seiner Rückständigkeit, Armut und Dunkelheit feindlich gegenüber standen (vgl. Laue 1961, 65). Der entscheidende Streitpunkt war allerdings, ob Russland, wie von den russischen Marxistinnen behauptet, notwendigerweise die kapitalistische Entwicklung Westeuropas nachholen musste, die Marx im Kapital am Beispiel Englands beschrieben hatte. Zur Beantwortung dieser Frage schrieb die Narodnikin Vera Sassulitsch 1881 einen Brief an Karl Marx. Sie bat ihn, zu der Position Stellung zu beziehen, „dass die Dorfgemeinde eine archaische Form ist, die die Geschichte [...] zum Untergang verurteilt hat“, eine Position, die von jenen vertreten würde, die sich „Marxisten“ nannten.
Marx
Noch in seiner Auseinandersetzung mit dem Scheitern der französischen Revolution hatte Marx formuliert, die Bäuerinnen seien jene „Klasse, die innerhalb der Zivilisation die Barbarei vertritt“ (Marx MEW 7a, 44). Seine Antwort an Vera Sassulitsch, die er in drei langen Entwürfen, aber nur einem kurzen tatsächlich abgeschickten Brief formulierte, fiel jedoch sehr anders aus: „Wenn die Dorfgemeinde im Augenblick der Bauernemanzipation von vornherein in normale Umstände versetzt worden wäre“, spekulierte Marx,
„wenn ferner die ungeheure Staatsschuld, die zum größten Teil auf Kosten und zu Lasten der Bauern abgetragen wird, mit den anderen Riesensummen, die vom Staat den ‚neuen Stützen der Gesellschaft‘ gewährt werden, die sich in Kapitalisten verwandelt haben; wenn alle diese Aufwendungen der Weiterentwicklung der Dorfgemeinde gedient hätten, dann würde heute niemand über die ‘historische Unvermeidlichkeit‘ der Vernichtung der Gemeinde grübeln: Alle würden in ihr das Element der Wiedergeburt der russischen Gesellschaft erkennen und ein Element der Überlegenheit über die Länder, die noch vom kapitalistischen Regime versklavt sind“ (Marx MEW 19, 385).
Mit dieser Einschätzung erwies sich Marx als eher unmarxistischer Konditionaldenker des Konjunktivs (wenn – wenn – würde). Dass die Dorfgemeinde Zeitgenossin der kapitalistischen Produktion in westlichen Ländern war, die wohl bald eine Sozialistische Revolution sehen dürften, hielt er für einen „weiteren für die Erhaltung der russischen Gemeinde (in ihrer Entwicklung) günstigen Umstand“ (ebd., 385). Sie könne sich hierdurch die „positiven Errungenschaften“ der kapitalistischen Produktionsweise aneignen, „ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen“ (ebd.). Die Frage ob vor dem Kommunismus notwendig der Kapitalismus mit Industrialisierung und Expropriation der Bäuerinnen kommen müsse, verneinte Marx somit eindeutig. Das Leiden, das die ursprüngliche Akkumulation in liberalkapitalistischer oder — im Falle der stalinistischen Zwangskollektivierung der 1930er Jahre — staatskapitalistischer Form für die Enteigneten und Proletarisierten bedeutete, hielt er nicht für notwendig, sondern für vermeidbar. Dabei machte sich Marx, wie aus den Exzerpten seiner umfangreichen Studien, für die er eigens Russisch lernte, hervorgeht, keine Illusionen über den gewalttätigen und patriarchalen Charakter des Dorfes (vgl. Knaudt 2009, 6). Er hielt aber die spezifische Form der russischen Dorfgemeinde, die Obtschina, für einen bedeutenden Anknüpfungspunkt einer kommunistischen Gesellschaft. Während in manchen Regionen des russischen Reiches (Litauen, Weißrussland, Westukraine) wie in Westeuropa nur Wald und Wiesen Allmende waren (vgl. Atkinson 1983, 28ff.), kannte die Mehrzahl der Regionen keinerlei Privateigentum an Land, sondern nur Gemeindeeigentum, Commons. Das Land wurde abhängig von der Anzahl der Arbeitskräfte und nach Bedürftigkeitserwägungen regelmäßig unter den patriarchal-familiären Haushalten neu aufgeteilt und im Rahmen einer geschlechtlichen Arbeitsteilung von Familien bebaut. Die ohnehin schon niedrige Arbeitsproduktivität (vgl. Robinson, 115) wurde durch die Fragmentierung des Landes in kleine Parzellen zusätzlich reduziert. Die Distribution der Parzellen jedoch erfolgte ebenso wie die Klärung aller anderen Angelegenheiten des Dorfes im Dorfrat (Schod). Für ihn trafen sich die Ältesten aller Haushalte – meistens, aber keinesfalls immer sogenannte Männer (vgl. Worobec, 184f.) – auf einer Wiese oder Straße, um in einer ungeregelten Form demokratischer Abstimmung zu einer Entscheidung zu kommen (vgl. Atkinson).
Die Marx’sche Position zur russischen Landfrage enthielt die reale Möglichkeit eines anderen Geschichtsverlaufes. Sie wurde jedoch von den russischen Marxistinnen nicht übernommen. Angesichts derer nicht gerade autoritätskritischen Haltung lohnt es, zur Erklärung dieses Paradoxons philologische Überlegungen zu bemühen. Tatsächlich war Marx’ Analyse der russischen Ökonomie einigen Wandlungen unterworfen (vgl. Mehringer 1978, 51-62). Während er noch in den 1860ern die Obtschina als Relikt einer prähistorischer Wirtschaftsweise auffasste, das geradezu die „Grundlage für asiatischen Despotismus in Stagnation“ (Marx MEW 28, 268) bildete und spätestens mit den kapitalistischen Landreformen von 1861 verschwinden würde, änderte er seine Position in den 1870er und 1880er Jahren und machte dies auch der russischen Öffentlichkeit bekannt. Zunächst im bereits erwähnten Brief an Vera Sassulitsch 1881, dann im Vorwort zur zweiten russischen Auflage des Kommunistischen Manifests von 1882, außerdem in einem Brief an die Redaktion des Petersburger Magazins Otechestvennye Zapiski, den Marx bereits 1877 geschrieben hatte, der aber erst 1888 in Russland veröffentlicht wurde, und schließlich im Nachwort zu Engels Soziales aus Russland, das 1894 auf Russisch erschien. Die Entwürfe für den Brief an Sassulitsch wurden erst 1924 in Russland veröffentlicht. Doch auch jetzt, mitten in der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), fast ein Jahrzehnt vor dem stalinistischen Krieg gegen die Bäuerinnen, löste der Text keine nennenswerte Debatte unter Marxistinnen aus.
In den von Marx mit Engels geschriebenen Texten wurde die Bedeutung einer Revolution in Westeuropa betont, mit deren Hilfe es möglich werde, das Gemeineigentum der Obtschina zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung zu machen. Engels selbst äußerte sich nach Marx’ Tod zurückhaltender. 1894 fragte er, „ob von dieser alten Gemeinde noch so viel gerettet ist, dass sie gegebenenfalls, wie Marx und ich 1882 noch hofften, im Einklang mit einem Umschwung in Westeuropa zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden kann, das zu beantworten maße ich mir nicht an“ (Engels MEW 22, 435). Diese Formulierung enthält in ihrer Emphase auf die Revolution in den bereits kapitalisierten und industrialisierten Regionen eine Teleologie, die bei Marx überraschenderweise fehlte, und ist, was die Hoffnung auf die Dorfgemeinde angeht, auch vorsichtiger als diejenige von Marx.2 Dennoch lässt sich auch aus ihr nicht die dorffeindliche Haltung extrapolieren, die für die marxistische Politik in Russland so zentral werden würde. Einen ersten Grund dafür, dass Marx‘ Brief an Sassulitsch so wenig beachtet wurde, vermutet Hartmut Mehringer darin, dass dessen Positionierung abseits der binären Struktur der politischen Debatte lag. Weil er sich auf keiner Seite der verfeindeten Lager klar positionierte, fiel seine Intervention aus dem politischen Raster. Weil der Brief, wie andere Texte von Marx auch, nicht rezipiert wurde, war sein Inhalt lediglich in anekdotischer Form bekannt. In den erzählten Geschichten wurde von einem persönlichen Zusammenstoß zwischen Plechanow, der das Gemeindeeigentum negiert, und Marx, der es verteidigt habe, berichtet (Mehringer 1978, 57). Eine zweite Erklärung dafür, dass die russischen Marxistinnen die Marx’sche, den Narodniki nahestehende, Haltung zur Dorfgemeinde ablehnten, könnte darin bestehen, dass diese ihre Identität bedrohte – „zog doch die russische sozialdemokratische Bewegung ihre Existenzberechtigung gerade aus dem Vorhandensein eines russischen Fabrikproletariats und der grundsätzlichen Einschätzung, dass Russland den Weg der kapitalistischen Entwicklung Westeuropas zu wiederholen habe“ (Mehringer 1978, 64). Tatsächlich bestand ein Großteil der bolschewistischen Basis aus Arbeiterinnen der ersten Generation, die also gerade erst vom Land in die Stadt migriert waren – während ihre Kader wie etwa Lenin häufig aus dem Adel stammten. Viele dieser Arbeiterinnen wurden durch das Bedürfnis motiviert, ihrer Vergangenheit zu entfliehen, die sie mit Brutalität und Religiosität, vor allem aber mit Armut und Rückständigkeit assoziierten.
Was immer die Gründe gewesen sein mögen, auf theoretischer Ebene stützten sich die Bolschewiki jedenfalls weniger auf Marx als auf ihren späteren Kontrahenten Karl Kautsky dessen Buch Die Agrarfrage Lenin zur „hervorragendsten Erscheinung der neuesten ökonomischen Literatur“ nach dem Dritten Band des Kapital erklärt hatte (z.n. Knaudt 2009, 12). In diesem 1899 erschienenen Buch hatte Kautsky die russischen Sozialdemokratinnen genau dafür gelobt, dass sie die Idee, durch den Dorfkommunismus stehe Russland dem Kommunismus näher als Westeuropa, verworfen hätten (Kautsky 1899,333). Es war genau diese Haltung, die Kautsky nach der Oktoberrevolution wiederholte, als er schrieb, die Revolution habe in Russland „dasselbe geleistet, was sie 1789 in Frankreich leistete“, nämlich den Feudalismus hinwegzufegen (Kautsky 1990a, 70). Damit habe sie zugleich „den Bauern, der bisher am Sturz des Grundeigentums, das heißt des großen, interessiert war, zum energischsten Verteidiger des Grundeigentums gemacht« (Kautsky 1990a, 70).
Die gleiche Einschätzung lag auch Luxemburgs Kritik der bolschewistischen Agrarpolitik zugrunde. Statt die Spezifik der russischen Obtschina zur Kenntnis zu nehmen, wie sie von Marx beschrieben worden war, übertrug auch Luxemburg das westeuropäische Modell des Bauerntums auf die russischen Verhältnisse. Weit entfernt davon, sozialistische Eigentumsverhältnisse voranzutreiben, hätten die wilden Enteignungen der Revolution die Klassenverhältnisse auf dem Land verstärkt, weil die „reichen Bauern und Wucherer, welche die Dorfbourgeoisie bildeten und in jedem russischen Dorf die tatsächliche lokale Macht in ihren Händen halten, die Hauptnutznießer der Agrarrevolution geworden“ seien (Luxemburg, 344). Damit hätten sich die Bolschewiki selbst ihren neuen Hauptfeind, eine kleinbürgerliche Bauernschaft, geschaffen.
Die Voraussetzungen dieser Diagnose, die Kautsky und Luxemburg mit den Bolschewiki teilen, sind allerdings in mindestens zweierlei Hinsicht falsch. Erstens trifft die Vorstellung einer kapitalistischen Klassenstruktur auf dem russischen Land mit Großbäuerinnen einerseits und mittellosen Landarbeiterinnen andererseits nur auf einen kleinen Teil der europäisierten Landwirtschaft Russlands zu. Im weitaus größeren Teil war der Kapitalismus noch nicht so weit vorgedrungen, was nicht zuletzt daran lag, dass die Obtschina Privateigentum an Land verhinderte. Da der Ältestenrat der Dorfgemeinden das Land regelmäßig nach Größe der Haushalte neu aufteilte, waren Reichtum und Armut weniger statisch als zyklisch verteilt: Wer in der Statistik des einen Jahres als reich an Land auf tauchte, konnte wenige Jahre später durch Todesfälle oder Wegzug von Mitgliedern des Haushalts als verhältnismäßig arm erscheinen. Das adlige Land, das sich Bäuerinnen in der Revolution 1917 aneigneten, verwandelte sich folglich nicht in Privateigentum, sondern wurde der Gemeinde übertragen, die es als Gemeinschaftseigentum verwaltete und – parzelliert – an ihre Mitglieder verteilte (vgl. Shanin 1972, 160f.).
Indem die Marxistinnen fast aller Schulen die Bäuerinnen zu Bürgerinnen erklärten, machten sie sich zu Komplizinnen der Reformversuche des zaristischen Beamten Stolypin. Dieser hatte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Reformprogramm ausgearbeitet, dass die Bauer dazu bewegen sollte, die Obtschina zu verlassen und sich mit kommerziellen landwirtschaftlichen Betrieben selbstständig zu machen. Sein Versuch, die zaristische Herrschaft durch die Schaffung einer bäuerlichen Klasse von Privateigentümerinnen zu retten, war auch am offenen Widerstand der Bäuerinnen gescheitert.
Literaturverzeichnis
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Kautsky, Karl 1990a: Die Diktatur des Proletariats, in: Mende, Hans-Jürgen (Hg.), Demokratie oder Diktatur, Band 1, Berlin.
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Marx, Karl MEW 19: Brief an V. I. Sassulitsch, 8. März 1881, in MEW Band 19, Berlin
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Materialien für einen neuen Antiimperialismus 1992: Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells. Beiträge zur Geschichte der sozialen Konfrontation mit dem sozialistischen Akkumulationskommando, Nr. 4.
Mehringer, Hartmut 1978: Permanente Revolution und Russische Revolution. Die Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution im Rahmen der marxistischen Revolutionskonzeption 1848–1907, Frankfurt / Bern / Las Vegas.
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Worobec, Christine D 1995: Peasant Russia. Family and Community in the Post-Emancipation Period, Illinois.
1 Bei vielen Bolschewiki der Stadt herrschte der Eindruck vor, von einer ländlichen Konterrevolution erdrückt zu werden: „Diese sozialistische Revolution stieg aus dem tiefsten Abgrund des ältesten barbarischen Russlands auf. Das Land plünderte systematisch die Stadt, indem es irgendeinen – vielleicht ganz absurden – Gegenstand für eine Handvoll Mehr forderte, das die Muschiks heimlich in die Stadt brachten ‚Sie nehmen vergoldete Stühle, Kandelaber und sogar Klaviere mit: ich habe gesehen, wie sie Straßenlaternen mitnahmen.‘ Man musste zum revolutionären Regime halten, um eine ländliche Konterrevolution zu verhindern, die nur eine Entfesslung der Rohheit gewesen wäre.“ (Serge 1991, 87).
2 Der Marxologe Ulrich Knaudt (vgl. Knaudt 2009) schätzt die Bedeutung Engels für den Richtungswechsel wie auch die Differenzen zwischen Engels und Marx höher ein. Engels betont tatsächlich, wie später auch die Bolschewiki, das Wachsen des Widerspruchs zwischen reichen und armen Bäuerinnen. Gegen diese Einschätzung gibt es gewichtige Gegenargumente: 1. Der eigentliche soziale Gegensatz verlief zwischen Landadel und Bauerngemeinden, 2. Die Zuspitzung der Konflikte hatte eher exogene Ursachen, 3. Es gab bedeutende regionale Unterschiede; 4. Die Dorfgemeinde besaß soziale Mechanismen, welche die Verschärfung sozialer Ungleichheit in Schranken hielten (indem beispielsweise reichere Bauern ‚öffentliche Arbeit‘ übernehmen mussten und deshalb weniger Zeit für die Arbeit auf dem Feld hatten); 5. Materielle Ungleichheit innerhalb der Gemeinde galt als legitim, weil sie in der hegemonialen Ideologie des Dorflebens auf Arbeit (d.h. Fleiß etc.) beruhte.