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Politik jenseits der Utopie

Rezension zu „Kritik des politischen Engagements“ von Gerhard Scheit

Tobias Schweiger

Die Platypus Review Ausgabe #5 | Juni 2017


Walter Benjamin hat ĂŒber Robert Walser geschrieben, dieser setze ein, wo die MĂ€rchen aufhören: bei ihrer Nachgeschichte. „‘Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.‘ Walser zeigt, wie sie leben.”i Frei im Anschluss daran kann ĂŒber das Buch Kritik des politischen Engagementsii gesagt werden, dass Gerhard Scheits Reflexion da ansetzt, wo die Utopien aufhören, und aufweist, wie Theorie nach ihrem Ende ĂŒberlebt. Das im Herbst 2016 im ça ira Verlag erschienene Werk möchte erweisen, „warum das Engagement fĂŒr Israel, wird es nur beharrlich genug betrieben und reflektiert, die Kritik des politischen Engagements beinhaltet” (S. 708). Politisches Engagement, soweit sei hier gesagt, reflektiert auf eine doppelte Bedeutung: denn wer sich politisch engagiere, der sei auch vom Politischen engagiert. „Wer sich fĂŒr einen bestimmten Zweck engagiert, erfĂ€hrt, wenn er sich nicht dumm machen lĂ€sst, stets aufs Neue, in welcher Weise er vom SouverĂ€n der Zwecklosigkeit, vom Selbstzweck des Kapitals, lĂ€ngst engagiert ist und schließlich doch nur dessen Sache betreibt” (S. 375). Das Politische selbst, in seinem Begriff, lĂ€sst nach Gerhard Scheit das VerhĂ€ltnis des Staates zu den BĂŒrgern und die Macht, die jener ĂŒber diese habe, verschwinden. Was auf Gewalt und der Einforderung des notwendigen Opfers des Einzelnen beruht, auf den gesellschaftlichen VerhĂ€ltnissen des staatlichen SouverĂ€ns, wird dezisionistisch gewendet. Damit wird nach Scheit en passant der Ursprung „der organisierten Gewalt, die nötig ist, die Entscheidung ĂŒberhaupt umzusetzen” (S. 265), verdrĂ€ngt. An dieses Problem will Gerhard Scheit nun anschließen, indem er ideologiekritisch versucht, Politik mit ihrer eigenen Grundlage, den GewaltverhĂ€ltnissen, zu konfrontieren. Hierin begreift er sich in der FortfĂŒhrung dessen, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der AufklĂ€rung begannen, als sie die VerdrĂ€ngung des Leibes als nicht objektivierte Körperlichkeit reflektierten. Diesem Anliegen verpflichtet, unterzieht Scheit die Philosophien Thomas Hobbes’ und Baruch Spinozas einer eingehenden Analyse, kritisiert Martin Heidegger, Carl Schmitt, Giorgio Agamben und andere.

Es ist nicht einfach, sich diesem Buch gegenĂŒber zu verhalten. Worauf man zuerst trifft, ist der stilistische Gestus, der signalisiert, dass jede Frage fehl am Platz ist. Es liest sich mehr wie ein Dekret denn als eine ErklĂ€rung, wieso die Welt ist, wie sie ist. Das Subjekt, dessen Leib gerettet werden soll, bleibt als Leser*in außen vor. Kritik des politischen Engagements hĂ€lt leider nicht, was der Titel verspricht. Kritik, nicht als einfaches Aburteilen verstanden, sondern als differenzierendes Auseinanderlegen eines Gegenstandes, das konsequente Fortdenken der PrĂ€missen der Kritisierten, um deren immanente Kritik voranzutreiben, ist mit den Werken von Immanuel Kant und Karl Marx verbunden. Immanuel Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft unternommen, das Erkenntnisvermögen selbst zu erkennen, die WidersprĂŒche der empiristischen und rationalistischen Erkenntnistheorie auseinanderzulegen. Damit sollten der Vernunft ihre Grenzen durch sich selbst aufgewiesen werden, sodass ein positives Resultat festgehalten werden konnte: die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis ĂŒberhaupt. DemgegenĂŒber verfolgte Karl Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie ein im Kern negatives Projekt. Mit der immanenten Darstellung der politischen Ökonomie konnte er aufzeigen, wie diese vor der SystematizitĂ€t der kapitalistischen Produktionsweise kapitulieren musste und so Geschichte in Natur umschlug,iii indem der „Austauschprozeß der Waren als die naturgemĂ€ĂŸe gesellschaftliche Form”iv erscheint. In der kritischen Darstellung des Kapitals als System gelang es Marx, dieses analytisch aufzubrechen, indem er zeigte, dass es als historisch Gewordenes auf sozialen Voraussetzungen beruht, die aufzuheben der Akt menschlicher Selbstbefreiung wĂ€re. Ihre Vorhaben einzulösen, war Kant wie Marx nur möglich, weil sie sich tief in ihren Gegenstand einließen, dem sie – wie Marx etwa den klassischen Ökonomen seiner Zeit gegenĂŒber – nicht geringen Respekt entgegenbrachten.

Nun wĂ€re es wirklich zynisch zu verlangen, Gerhard Scheit mĂŒsse, um seinem programmatischen Titel gerecht zu werden, einen vergleichbaren Respekt fĂŒr Carl Schmitt oder Martin Heidegger aufbringen, wie es Marx gegenĂŒber Adam Smith und David Ricardo getan hat. Auch kann man nicht verlangen, dass sich der Charakter der Kritik dem Gegenstand gemĂ€ĂŸ nicht verĂ€ndern dĂŒrfe. Dass sich eine Kritik der VerdrĂ€ngung von Gewalt im Politischen nicht schreiben lĂ€sst wie die Kritik der politischen Ökonomie, ist einzusehen. In klarer Abgrenzung zur Kritik des Liberalismus schrieb einst Theodor W. Adorno: „Wollte man etwa die sogenannte Ideologie des Nationalsozialismus ebenso kritisieren, man verfiele der ohnmĂ€chtigen NaivitĂ€t.“v Denn: „Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, [ist] nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthĂ€lt, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.“vi Darin ist das wichtige Moment festgehalten: dass dort, wo die „pathische Projektion“ das Ziel der Weltaneignung wird, von „notwendig falschem Bewusstsein”vii kaum noch zu sprechen ist. Allerdings, und darauf zielt meine Kritik Gerhard Scheits hin, kann man es sich in der Feststellung dieser Differenz nicht gemĂŒtlich machen. Denn was Adorno hier analytisch trennt, ist in der Wirklichkeit nicht absolut geschieden.

Wie die Elemente des Antisemitismus im Anschluss an Immanuel Kant festhalten, hat jede Erkenntnis – auch jene, die sich der Wahrheit verpflichtet – ein Moment in der Projektion. „Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewußte Projektion.”viii Als solche kann sie immer auch scheitern, besonders dort, wo die gesellschaftliche Vermittlung in ihrem dinglichen Resultat verschwindetix und so dem Ausfall der gedanklichen Vermittlung Vorschub leistet. Wir können das am Umschlagen des gesellschaftlich Spezifischen in das natĂŒrlich Normale in der politischen Ökonomie sehen, wenn gesellschaftliche VerhĂ€ltnisse als Natureigenschaften erscheinen.x Gerade weil der Fetischcharakter der Ware keine Projektion im Sinne einer Zuschreibung ist, sondern sich aus der Form sozialer Praxis begrĂŒndet, ist er objektiv prĂ€destiniert, vom Subjekt in naturalisierender Projektion erfasst zu werden. Die ihm aufsitzende Theorie ist eine Theorie der falschen Unmittelbarkeit, die dem subjektiven Urteil unterliegt, das faktische Resultat wĂ€re das Ganze. Die Naturhaftigkeit der ökonomischen Kategorien ist somit eine Projektion, die ihren Ursprung im Gegenstand hat, sich ihres eigenen Ursprungs aber nicht erinnern kann und so in falscher Unmittelbarkeit verharrt. Umgekehrt, so der Versuch Moishe Postones, mĂŒsse noch spekuliert werden, wo der eliminatorische Antisemitismus selbst noch in einem „historisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhang“ konstituiert wird.xi Mit der EngfĂŒhrung seiner Argumentation an der Marx‘schen Analyse der Warenform versucht Postone, die epistemologische HistorizitĂ€t des modernen Antisemitismus zu begrĂŒnden. Das Wahnbild des Antisemitismus finde seine verkehrte Wahrheit darin, dass die Herrschaft des Abstrakten – durch das Konkrete vermittelt – die wirkliche Bewegungsform des Kapitals darstellt. Zusammengefasst heißt das: Wahn und Wirklichkeitsbezug teilen sich ebenso viel, als sie voneinander trennt. Die Feststellung, dass der Nationalsozialismus nicht derselben Form der Kritik zu unterziehen ist, die dem „notwendig falschem Bewusstsein” adĂ€quat war, hat noch wenig ĂŒber die Form der Kritik gesagt, die jenem adĂ€quat wĂ€re.

In der Dialektik der AufklĂ€rung untersuchen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den Umschlag von Mimesis – dem Sich-der-Umwelt-Ă€hnlich-Machenxii als ein Moment der Erkenntnis – in „pathische Projektion“. Im Anschluss an dieses Unternehmen versteht sich auch die Analyse von Hobbes und Spinoza bei Gerhard Scheit. Diese Studie am Anfang von Kritik des politischen Engagements verschreibt sich dem Bergen verschĂŒtteter LiberalitĂ€t bei den dunklen, frĂŒhbĂŒrgerlichen Philosophen. Scheit findet bei Hobbes festgehalten, dass die Grenze des Staates der Leib der BĂŒrger sein mĂŒsse, eine Erinnerung an die Leibhaftigkeit des zivilisatorischen Anspruchs. So verhandelt Hobbes‘ Theorie des Leviathan den Tod fĂŒr den Staat nicht affirmativ. Die Untersuchung Gerhard Scheits enthĂ€lt Momente, die dieses SelbstverstĂ€ndnis des Anschlusses an die Dialektik der AufklĂ€rung rechtfertigen. Allerdings fragt man sich, ob es sich dabei um eine ausfĂŒhrende Illustration der betreffenden Stellen der Dialektik der AufklĂ€rung handelt oder um deren staatskritische ErgĂ€nzung. Es wird nĂ€mlich zu Recht die Unterbelichtung des Staates in der Kritischen Theorie kritisiert.

Die Rolle des SouverĂ€ns bei der VerdrĂ€ngung der Natur im Subjekt, die Ideologie des leibhaftigen Todes fĂŒr die Gemeinschaft, wĂ€re jedoch genauer auf die Frage hin zu untersuchen, wie sie sich quer zu Freiheit und Notwendigkeit im Subjekt manifestiert. Die ÜberwĂ€ltigung des Individuums durch die Wirklichkeit im Antisemitismus muss als Dreiheit sozialer NaturzwĂ€nge, den unterdrĂŒckten AnsprĂŒchen des Subjekts und dem restriktiven Staat als „gesellschaftlichem Über-Ich“ vermittelt werden. Damit soll ausgedrĂŒckt werden, dass der Wille, den Wahn zu glauben, sowohl der inneren Spannung von Bewusstem und Unbewusstem als auch der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Einzelnen unter Staat und Kapital entspringt, in welche gesetzt das reflektierende Subjekt sich stets nur a posteriori erkennen kann. Die Bedingungen – diesen Akt der Freiheit, der im Erkennen der eigenen Bedingtheit liegt, zu vollziehen – werden aber von Scheit am isolierten Subjekt der Erfahrung festgemacht: „Als Erfahrung ist Freiheit jedoch das Vermögen, sich dieses unauflöslichen Zusammenhangs mit der Natur bewusst zu werden, und gerade dadurch seine Unterwerfung als gesellschaftliches Wesen zu erfassen” (S. 353).

Die Reduktion des Erfahrungsbegriffs auf die Beziehung des „einzelmenschlichen Bewusstseins auf den Leib des Einzelnen”xiii, d.h. die Erfahrung, ohne ihre Gebundenheit an sozial-wirksame Praxis reflektiert, fĂŒhrt hier zu einer Reduktion des Reflexionsrahmens auf das vereinzelte Einzelne. Sozialer Katalysatoren von Erfahrung entledigt, kann nur das Subjekt Grund seiner ErfahrungsfĂ€higkeit bleiben. Damit wird das Eingedenken der Natur im Subjekt zum individuellen (Un-)Vermögen. Das wird bereits an einer bestimmten UnschĂ€rfe der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos deutlich: Der Vorschlag, den Wahn des Nationalsozialismus adĂ€quat zu erfassen, den er im Anschluss an das oben Zitierte in seinem Aufsatz zur Ideologienlehre unterbreitet, ist selbst eher einem Sprung als einem Argument zu verdanken. Er proklamiert, dass dort, wo „der Begriff von Ideologie, von notwendig falschem Bewusstsein gar nicht mehr unmittelbar trifft“xiv, das manipulativ Ausgedachte, das „bloße Herrschaftsmittel“xv wieder zu seinem Recht kommt. Der Analyse des Wahns wird die Spur seiner gesellschaftlichen Vermittlung undurchsichtig. Das zeigt die Schwierigkeit, die negative Aufhebung der bĂŒrgerlichen Gesellschaft in der GegenĂŒberstellung von Freiheit und Notwendigkeit zu erfassen, welche selbst nur die Idee der Emanzipation enthĂ€lt. Wo die bĂŒrgerliche Freiheit Ideologie, die unbedingte Notwendigkeit aber ebenso falscher Schein ist, kann der Modus des Subjekts – von seiner nur möglichen Befreiung aus gedacht – nicht eindeutig erfasst werden. Dasselbe gilt auch fĂŒr das Subjekt, dass sich dieser Uneindeutigkeit durch Selbstaufhebung entziehen will.

Wenn Gerhard Scheit im Anschluss an Jean-Paul Sartre davon schreibt, dass der Antisemit seinen Wahn wĂ€hle, reiht er sich eben in dieses Misslingen der Analyse des antisemitischen Subjekts ein: „Der Antisemitismus ist ‚pathisch‘ gerade insofern, als er eben nicht als notwendig in demselben hinreichenden Sinn begriffen werden kann, in dem Ideologie als das falsche Bewusstsein definiert ist“ (S. 370).. WĂ€hrend hier bei der Wahl des Antisemiten das subjektive Zutun verabsolutiert wird, wird das subjektive Inkrement in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ideologie ignoriert. Die These gerĂ€t damit selbst zur Ideologie, da sie der Notwendigkeit der Ideologie auf den Leim geht, indem der jeweils subjekt-vermittelte Beitrag zu dieser Ideologie ĂŒbersehen wird. Ideologie ist zwar notwendig falsches Bewusstsein, weil objektiv induziertes, die Wirklichkeit verkehrt begreifendes Bewusstsein, aber nichtsdestotrotz das Bewusstsein eines Subjekts. Dass es an der Naturhaftigkeit der Warenförmigkeit sozialer Beziehungen nichts Ă€ndere, sie als historisch spezifisches Resultat unbewusst-kollektiver Praxis zu begreifen, stimmt insofern, als sie uns weiterhin als gesellschaftliche Übermacht gegenĂŒbertritt. Ob sie uns aber in der Form der Ă€nderbaren oder unabĂ€nderlichen Übermacht gegenĂŒbertritt, macht den Unterschied von SouverĂ€nitĂ€t (lat. Überlegenheit) und Allmacht aus. WĂ€hrend diese zur individuellen Resignation verdammt, ermöglicht das Erkennen jener die Frage nach der Überwindung der auf Gewalt fußenden SouverĂ€nitĂ€t.

In dem Leiden, welches um seiner Taubheit willen das absolute Grauen hervorbringt, ist nach der Dialektik der AufklĂ€rung „ein Element der Wahrheit enthalten gegenĂŒber dem bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die ĂŒberlegene VernĂŒnftigkeit sich vereidigt hat.“xvi Doch flĂŒchtet sich dieses Leiden, statt in das konsequente Denken, in die Formel. Dort findet es, wie Jean-Paul Sartre feststellt, sein Vorbild in der Starrheit des Steins. Diese Flucht lĂ€sst sich im Anschluss an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aber nicht als eine Wahl des Ich (im psychoanalytischen Sinne) verstehen. Von diesen wird die „pathische Projektion“ mit dem Druck des Über-Ichs, der Verzweiflung, dem Vergessen, dem nicht Vermögen, erfasst. Damit ist die Antisemitin weder zu diesem Wahn determiniert, noch aus eigener Wahl wahnhaft, sondern im Antisemitismus finden die unterdrĂŒckten SehnsĂŒchte wie die bewussten Bestrebungen nach Aufhebung der KrĂ€nkung eine gesellschaftlich verbindliche, weil kollektive, Form.

Die zentrale Frage wĂ€re nun, was die Bedingungen sind, unter welchen diesem Druck weniger nachgegeben wĂŒrde; wo an die Stelle der Verzweiflung der berechtigte Zweifel an dem Zustand der Welt rĂŒcken könnte; wo die destruktive Projektion des VerdrĂ€ngten verhindert wĂŒrde, indem das Subjekt sich einer Zukunft entgegen richten könnte. Nicht umsonst endet die zitierte These in der Dialektik der AufklĂ€rung mit dem Satz: „Die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft ist die Gegenbewegung zur falschen Projektion, und kein Jude, der diese je in sich zu beschwichtigen wĂŒĂŸte, wĂ€re noch dem Unheil Ă€hnlich, das ĂŒber ihn, wie ĂŒber alle Verfolgten, Tiere und Menschen, sinnlos hereinbricht.“xvii Wo individuelle und gesellschaftliche Emanzipation Bedingung sind, gelangt man dahin, was im besten Sinne die politische Bearbeitung sozialer Konflikte war. Politisch nicht in dem Sinne, sich einfach an die Stelle der alten Gewalt zu setzen, sondern die praktische Denunziation der gesellschaftlichen Gewalt durch Staat und Kapital – also Politik, die ihrer Selbstaufhebung zustrebt. So sollten die Formen des SouverĂ€ns, die, wie Gerhard Scheit festhĂ€lt, Formen der Gewalt gegen Leib und Leben sind, abgeschafft werden. Gerhard Scheit, und das ist nur verstĂ€ndlich, will dieser WidersprĂŒchlichkeit entkommen, politisch die Aufhebung von Politik, damit die Aufhebung von Gewalt und damit die Aufhebung der objektiven Grundlagen des Antisemitismus zu betreiben. Doch gerĂ€t hier die bestimmte Negation zur abstrakten, wenn er schreibt, die Verhinderung der Wiederholung von Auschwitz „hat im Zweifelsfall der konkreten, einzelnen Situation Vorrang gegenĂŒber der Möglichkeit, den Stand der Unfreiheit in toto, der doch Auschwitz zugrunde liegt, abzuschaffen“ (S. 11). Nun gibt es zweifellos Anlass dazu, sich dieser Frage zu stellen: sei es in der Verhinderung eines iranischen Atomwaffenprogramms, sei es im erfolgreichen In-Schach-Halten des notorischen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft. Doch wer ĂŒber die gesellschaftliche WirkmĂ€chtigkeit verfĂŒgt, dies zu leisten, der muss sich vorher, angesichts der MarginalitĂ€t einer emanzipatorischen Linken heute, andere Fragen der HandlungsfĂ€higkeit gestellt haben. Dieser Herausforderung, die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer politisch handlungsfĂ€higen Linken konkret zu stellen, entschlĂ€gt sich das Buch jedoch.

Was der Nationalsozialismus den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit aufgezwungen hat, war eben nichts weniger als die Verpflichtung, die VerhĂ€ltnisse so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, also die objektiven Bedingungen der subjektiven Ohnmachtserfahrungen abzuschaffen, die im antisemitischen Kollektiv ihre vernichtende Abfuhr erfahren, kurz: revolutionĂ€r zu werden. Zurecht hĂ€lt Gerhard Scheit den kategorischen Imperativ Adornos gegenĂŒber all denen hoch, die von der Vernichtungskraft des Antisemitismus nichts wissen wollen. Aber dabei begreift er diesen Imperativ implizit als Ersatz anstatt als historisch konkretisierte Form der Imperative von Immanuel Kant und Karl Marx; und beraubt ihn damit seiner tatsĂ€chlichen Bedeutung fĂŒr das Leben der JĂŒdinnen und Juden. Auch wenn keine Rede davon sein kann, dass die Revolution vor der TĂŒre steht, wĂ€re es umso angemessener, die eigene SolidaritĂ€t mit den JĂŒdinnen und Juden darin zum Ausdruck zu bringen, worin man ihnen wirklich zur Seite stehen kann, nĂ€mlich nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Linken zu fragen, die den antisemitischen Wahn ĂŒberwinden könnte.

Der antisemitische Charakter der Gesellschaft ist bei Gerhard Scheit Ausgangspunkt jeder Reflexion. Sie fĂŒhrt ihn praktisch auf den Appell zurĂŒck, konkrete AbwehrkĂ€mpfe wĂ€ren das letzte Mittel, das dem Individuum bliebe, sich dem Imperativ Adornos gemĂ€ĂŸ zu verhalten (S. 11). Die grundsĂ€tzliche VerĂ€nderung der sozialpsychologischen Konstitution wird nicht einmal mehr als Ziel formuliert. Wer aber die Subjekte der antisemitischen Gesellschaft in einerseits hoffnungslose FĂ€lle und andererseits sich als Subjekt erhaltende Kritiker*innen einteilt, steht dem Antisemitismus notwendig aussichtslos gegenĂŒber und bleibt so darin gefangen, feststellen zu mĂŒssen, dass der Mensch nicht nur ein geknechtetes, sondern auch ein verĂ€chtliches Wesen ist. Sicherlich bestand ein Problem der scheiternden sozialistischen Bewegung darin, dass die Differenz von Wahrheit und Wahn zwar streng, aber nicht zwingend ist. Der Versuch, dem Antisemitismus mit der Konstruktion des Klassenbewusstseins beizukommen, war nicht dauerhaft erfolgreich. Dieses wurde zunehmend selbst als das „eigentliche Interesse” missverstanden, dem keine politische Konstruktion mehr vorausgehen mĂŒsse. Dass es a posteriori erscheint, als wĂ€re das Scheitern dieser Konstruktion aus der eigenen Verstrickung in GewaltverhĂ€ltnisse notwendig gewesen, verstellt den Blick auf die Aufgaben einer herzustellenden Linken. Dieses Problem lĂ€sst sich in der Theorie nicht so lösen, dass an die Stelle des Arguments das deklamatorische Urteil tritt. Es gilt, um die sozialpsychologische Konstitution der Subjekte zu kĂ€mpfen, statt diese als verdinglichte Voraussetzung zu entpolitisieren.

Als emanzipatorische Aufhebung der AufklĂ€rung muss es darum gehen, sich nach den Vermittlungsbedingungen von Utopie und Gegenwart zu fragen. Es muss gefragt werden, was bei aller historischen Differenz etwa am Anspruch Clara Zetkins fĂŒr den Kampf gegen den Antisemitismus zu lernen ist: Sie wollte um die Herzen und Köpfe der Menschen kĂ€mpfen, „die zufolge der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahre unsicher geworden sind in ihrem Denken und Wollen, die die alte Weltanschauung verloren, ohne im Wirbelsturm der Zeit bereits eine neue, feste Weltanschauung gefunden zu haben. Lassen wir die Suchenden nicht zu Irrenden werden.“xviii

So sehr uns das krĂ€nken mag, und so sehr uns beim fortwĂ€hrenden antisemitischen Wahn das Grauen aufsteigt: Die Subjekte der antisemitischen Gesellschaft sind Gegenstand politischer KĂ€mpfe, die aufzugeben fatal und die zu gewinnen nur möglich ist unter dem Banner einer Utopie. Eine Utopie, die in der Lage ist, es mit dem Druck des Über-Ichs der Einzelnen aufzunehmen; eine Utopie, fĂŒr die es sich zu emanzipieren lohnt. Betrachtet man den gegenwĂ€rtigen Zustand der Gesellschaft, so muss politischem Engagement sicherlich VerdrĂ€ngung der eigenen Ohnmacht anhaften. Aber das Subjekt erhĂ€lt sich und damit die FĂ€higkeit, sich von dieser Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, in der Zeit. Reflexion und Kampf um das, was gegenwĂ€rtig unmöglich scheint, schließen sich nicht aus. Sie setzen sich sogar in bestimmtem Sinne voraus. Denn Leiblichkeit, die verdrĂ€ngte Natur am Subjekt, kann nur dort ihrer VerdrĂ€ngung entraten, also befreit erscheinen, wo das menschliche Wesen sich verwirklichen kann – also dort, wo es als die Selbstentfaltungsmöglichkeit der Menschen erkannt wĂŒrde; dort, wo unternommen wird, das Bestehende praktisch zu ĂŒberwinden. Dort, wo die Menschen „ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.”xix

Gerhard Scheit: Kritik des politischen Engagements. ça ira Verlag Freiburg 2016, 712 Seiten, 36 €


i Walter Benjamin: Robert Walser. In: Illuminationen. AusgewÀhlte Schriften 1. Frankfurt am Main 1977, S. 352.

ii Gerhard Scheit: Kritik des politischen Engagements. Freiburg 2016. Im Folgenden direkt im Text zitiert.

iii Karl Marx: Das Kapital. Der Produktionsprozess des Kapitals. Berlin 2008, S. 85ff.

iv Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx Engels Werke Bd. 13. Berlin 1972, S. 41.

v Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre. In: Soziologische Schriften 1. Frankfurt am Main 1977, S. 465.

vi Ebd.

vii Ebd.

viii Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der AufklÀrung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 2008, S. 198.

ix Marx 2008, S. 107.

x Ebd., S. 86ff.

xi Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. 2005, S. 8. <http://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/pdf/postone-deutschland_lp.pdf>

xii Horkheimer/Adorno 2008, S. 197.

xiii Ebd., S. 345.

xiv Adorno 1977, S. 465.

xv Ebd.

xvi Horkheimer/Adorno 2008, S. 205.

xvii Ebd, S. 209.

xviii Clara Zetkin: Der Kampf gegen den Faschismus. 1923. <https://www.marxists.org/deutsch/archiv/zetkin/1923/06/faschism.htm>

xix Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx Engels Werke Bd. 8. Berlin 1960, S. 117.