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Podiumsdiskussion: Was ist die Europäische Union - sollten wir dagegen sein?

 Die Platypus Review Ausgabe #3 | this article in English | Oktober 2016


Am 11. November 2015 fand im Rahmen der zweiten europäischen Konferenz der Platypus Affiliated Society an der Goethe-Universität Frankfurt eine Podiumsdiskussion zum Thema „What is the European Union and should we be against it?“ statt. Teilgenommen haben Juan Roch von Podemos, Jens Wissel von der Assoziation für Kritische Gesellschaftsforschung, Nikos Nikisianis von Diktio und Martin Suchanek von der Gruppe Arbeitermacht. Es folgt eine editierte und ins Deutsche übersetzte Transkription der Veranstaltung.

Einleitung

Ein vereintes und friedliches Europa schien ein ferner Traum für eine Generation zu sein, die an der Erfahrung von Krieg und Zerstörung teilhatte. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts nahm diese Hoffnung schließlich Form und Realität an: in der Europäischen Union. Doch trotz der offiziellen Proklamation von Frieden, sozialem Wohlstand und einer Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus befindet sich das Projekt heute in einer lang anhaltenden Krise mit unsicheren Erwartungen. Die Flüchtlingskrise, die Eurokrise, eine massive Austeritätspolitik und die zunehmende Beschneidung demokratischer Prinzipien, eine wachsende Spaltung zwischen starken und schwachen Volkswirtschaften, und Deutschlands neue Hegemonie – all das scheint in starkem Kontrast zu den offiziellen europäischen Werten und Solidarität zu stehen.

Der verzweifelte Kampf von SYRIZA zeigte die Notwendigkeit sowie scheinbare Unmöglichkeit der europäischen Linken, mit einer Politik zu antworten, die wahrhaft international wäre und über den „Widerstand gegen Austerität“ hinausgehen würde. Trotz wachsender sozialer Spannungen drückt sich die tiefe Ambivalenz gegenüber der EU in der Unfähigkeit der Linken aus, eine kohärente Vision einer politischen Alternative zu formulieren. Gleichzeitig wird die Ablehnung der EU immer mehr zu einem Thema der Rechten. Was bedeutet die EU für die Linke heutzutage? Soll sie auf der Basis der EU selbst überwunden oder abgeschafft werden? Die Klärung ihres Wesens und angemessener Antworten scheint eine der drängendsten Fragen für die Linke auf dem Kontinent und darüber hinaus zu sein.

Juan Roch: Es gibt auf der Linken üblicherweise zwei Positionen: Zum einen die der naiven „globalistischen Linken“, die die Europäische Union (EU) als intrinsisch positiv erachtet, sie mit Internationalismus verbindet und die institutionelle Ausgestaltung sowie die Akkumulationsstrategien innerhalb der EU nicht problematisiert. Die zweite Position ist die der „anti-globalistischen Linken“, die die EU als intrinsisch negativ erachtet und jede Partizipation innerhalb der EU als kontraproduktiv für die Stärkung der Arbeiterklasse und der populären Klassen hält. Diese Position übernimmt also eine klassische These von Marx über den Staat, wendet sie aber auf die EU an – dass die Institutionen ein Ausschuss seien, der die Geschäfte der Bourgeoisie bzw. der ökonomischen Eliten verwaltet. Im Kontrast zu diesen beiden Positionen möchte ich hier eine Position der Intervention in die EU rechtfertigen, werde jedoch davor kurz auf die politischen Implikationen eingehen. Ich möchte zunächst klären, was die EU ist. Normalerweise wird sie definiert als institutioneller Komplex aus Normen, Regulierungen und Ausschüssen, doch es wird häufig vergessen zu erwähnen, dass sie in den Weltmarkt und die Welt-Gesellschaft eingebettet ist. Diese Einbindung stellt eine sehr wichtige Einschränkung ihrer institutionellen Ausgestaltung dar. Ich werde auf zwei zentrale Punkte Bezug nehmen, die wichtig sind, um den gegenwärtigen Zustand der EU zu verstehen: Zum einen auf den Washington Consensus aus den 70er Jahren, dessen wichtigste Repräsentanten Verbindungen zu Reagan und seinem politischen und ökonomischen Projekt für Europa (und über Europa hinaus) haben. Dieses Projekt besteht aus einer spezifischen Akkumulationsstrategie der De-Nationalisierung, einer schrittweisen Demontage des Sozialstaates sowie der Schwächung der Arbeiterklasse.

Zentral für die gegenwärtige Form der EU sind zum anderen der Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 sowie der Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2007. In beiden Verträgen bestanden die Hauptziele darin, den freien Markt und die freie Mobilität zu gewährleisten. Zwar werden auch sozialpolitische Forderungen erwähnt, doch diese wurden aufgrund jener Priorität des freien Markts nie implementiert. Im Kontrast zum keynesianischen Nachkriegsstaat bzw. zum Sozialstaat leben wir heute in einem „post-nationalen Regime der workfare“1, wie Bob Jessop die gegenwärtige Form der Kapitalakkumulation in Europa nennt. Sie zeichnet sich durch die folgenden Kriterien aus:

1) systematische Konkurrenz und Innovation in Europa, die durch die Verträge von Maastricht und Lissabon implementiert wurden, 2) Unterordnung der Sozialpolitik und der Forderungen des Arbeitsmarktes unter den „freien Markt“. In Spanien wurde dies z.B. in der Veränderung des Art. 133 angewendet, der die Sozialpolitik der Zahlung von Schulden an Deutschland und die EU unterordnete; 3) Europäisierung als schrittweiser Transfer von Kompetenzen von nationaler zu europäischer Ebene und umgekehrt; 4) Umformung der Regierung in ein komplexes Netzwerk der Macht, was zu einem Demokratiedefizit führte, das in die institutionelle Ausgestaltung der EU eingeschrieben ist. Es sind Institutionen wie die Europäische Zentralbank (EZB), die wirklich über die wichtigen Fragen in Europa entscheiden, aber nicht demokratisch gewählt wurden.

Die Finanzkrise von 2008 beschleunigte all diese politischen Probleme. Sie war zwar auch eine Chance für die Linke, doch in erster Linie bot sie den Eliten die Möglichkeit, die Rechte der Arbeiter und die Überbleibsel des Sozialstaates anzugreifen – zumindest in Spanien und vielen anderen europäischen Ländern. Die Linke befindet sich in einer defensiven Position. Wir versuchen uns gegen die Angriffe der Eliten zu verteidigen – es ist eine wichtige Zeit für den Kampf. Sie unterscheidet sich jedoch von einer Zeit, in der es eine starke Arbeiterklasse gab und viele populäre Klassen organisiert waren. Heutzutage sind die Arbeiterklasse und ihre Organisationen schwach; sie befinden sich unter Druck der Angriffe der Eliten. Es ist daher an der Zeit, über ihre Strategie nachzudenken.

Auch wenn SYRIZA auf zahlreichen Ebenen gescheitert ist – sie war nicht in der Lage, ihr Programm zu implementieren –, bleiben ein paar wichtige Erkenntnisse, die zwar nicht positiv, aber wenigstens pädagogisch wertvoll sind. SYRIZA führte zu einer Politisierung in Europa und weckte die schlummernde europäische Linke aus ihrem Schlaf. Podemos spielt ihren symbolischen Bezug zur Linken herunter, um den common sense der populären Klassen zu nutzen. Was bedeutet es, die klassischen Forderungen der Linken in einem anderen Gewand neu zu formulieren? Ich denke nicht, dass dies ein Ausdruck eines reformistischen Wesens von Podemos ist. Es ist ein Ausdruck der historischen Niederlage der Linken und der gegenwärtigen Offensive der Eliten. Es wird oft versucht, linke Parteien als entweder reformistisch oder revolutionär zu bezeichnen – ich glaube allerdings wirklich nicht, dass dies nützlich ist, um die unterschiedlichen Kräfte und Strategien in Bezug auf Podemos und die neuen links-populistischen Parteien in Europa zu verstehen.

Was kann die Linke in Europa jetzt tun? Es ist wichtig sich bewusst zu machen, dass wir Parteien und Plattformen benötigen, die verschiedene Forderungen artikulieren und an Wahlen teilnehmen – auf nationaler und europäischer Ebene –, doch gleichzeitig sollten wir ein alternatives Modell einer politischen Partei entwerfen. Podemos hat uns gelehrt, dass die Struktur traditioneller Parteien für den Kampf der populären Klassen nicht hilfreich ist.

Die Linke hat kein gemeinsames Narrativ über Europa. Wir sollten dieses Narrativ erschaffen und dabei die Niederlagen gegen die Nationalisten, die in vielen Ländern stattfanden, berücksichtigen. Des Weiteren müssen wir ein Netzwerk verschiedener sozialer Bewegungen in Europa kreieren – dies hört sich schwierig an, passiert jedoch bereits. Wir müssen eine Strategie entwerfen, um Reformen durch ein pan-europäisches Netzwerk politischer Parteien voranzubringen. Ich hoffe, dass wir dies in naher Zukunft realisieren können.

Wir verteidigen ein Minimalprogramm in Europa, das die Niederlage der Linken berücksichtigt. Wir verteidigen ein Minimalprogramm demokratisierter Institutionen und Umverteilung, um eine andere Wirtschaftspolitik in Europa zu ermöglichen. Gleichzeitig versuchen wir das Volk weiter für eine neue Sozialordnung und eine alternative Wirtschaftsform zu politisieren. Wir sind uns jedoch bewusst, dass wir dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten könnten.

Es wäre jedoch falsch und voreilig daraus den Schluss zu ziehen, dass die EU kein Terrain des politischen Kampfes darstellt. Wir in Podemos sind der Meinung, dass wir die ökonomischen und politischen Eliten überall bekämpfen müssen – im Fernsehen, im Europäischen Parlament, im Spanischen Parlament, und in allen anderen Institutionen –, auch wenn wir uns eingestehen müssen, dass wir heutzutage nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten haben.

Jens Wissel: Wie kann das Projekt der EU in politisch-ökonomischen Begriffen beschrieben werden, und wessen Interessen dient es? Das Projekt der EU hat sich im Laufe der Zeit zwar verändert, doch es war von Anfang an ein Projekt der Eliten. Das Gleiche trifft für die Nationalstaaten zu. Bis zum Beginn der 80er Jahre war die EU nichtsdestotrotz Teil der keynesianistisch-fordistischen Konstellation. Fordismus ist ein Begriff, der versucht, die Regulation und den Akkumulationsmodus nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschreiben, der im Wesentlichen durch Massenproduktion, Massenkonsumption, den Sozialstaat und relativ sichere Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet ist.

Diese keynesianistisch-fordistische Konstellation veränderte sich mit der Krise des Fordismus, der Internationalisierung der Produktion, der Internationalisierung eines Teils der herrschenden Klasse, mit den veränderten Beziehungen der Kräfte innerhalb der Nationalstaaten und mit der Krise – oder dem Scheitern – der keynesianistischen Krisenreaktion. Seit 1986, als die Einheitliche Europäische Akte (EEA) unterschrieben wurde, wird die EU vom Neoliberalismus dominiert, der den Spruch von Margaret Thatcher verwirklicht: „Es gibt keine Alternative.“ Seitdem steht die EU noch offensichtlicher in den Interessen der großen Unternehmen, europäischen Exportfirmen und des Finanzkapitals.

Politisch gesehen war die EU ursprünglich die europäische Reaktion auf die Globalisierung, und selbst institutionelle Akteure wie Kommissionspräsident Jacques Delors oder sozialdemokratische Parteien hielten eine verstärkte Regulierung und ein soziales Europa für möglich. Mit der Krise der alten Konstellation änderte sich dies jedoch, und der Versuch, eine soziale und politische Union zu schmieden, scheiterte. Tatsächlich ist die EU heutzutage so etwas wie eine Maschine der Deregulierung: Der Vertrag von Maastricht war eines der größten Programme der Deregulierung, das wir in den letzten 30 Jahren gesehen haben.

Die EU wechselte also zu einem neoliberalen Integrationsmodus und wurde zu einer wesentlichen Bedrohung des Sozialstaats. Es ist allerdings wichtig, diesen Druck nicht als äußeren Druck zu verstehen. In der Globalisierungsdebatte wurde oft gesagt, dass Globalisierung den Sozialstaat von außen bedroht und wir daher unseren nationalen Sozialstaat gegen diese äußere Bedrohung verteidigen müssen. Doch Globalisierung und Europäisierung kommen aus dem Inneren des Nationalstaates: Sie resultieren aus veränderten Kräfteverhältnissen innerhalb des Nationalstaates und der internationalen Klassenbeziehungen, insbesondere der herrschenden Klasse. Dies veränderte den Nationalstaat insoweit, als er selbst zu einem zentralen Akteur in der Schaffung dieser neuen neoliberalen europäischen Konstellation wurde.

Tatsächlich kam der Neoliberalismus zunächst im Vereinigten Königreich und den USA an die Macht, und erst später in zahlreichen europäischen Staaten. Daraus kann man schließen, dass Europa nicht wegen der EU vom Neoliberalismus dominiert wird – es ist genau umgekehrt: Die EU wird wegen Europa vom Neoliberalismus dominiert, wegen der neoliberalen Mitgliedsstaaten und der fundamentalen Veränderungen der Kräfteverhältnisse innerhalb dieser europäischen Mitgliedsstaaten. Es war zunächst Thatcher, die Neoliberalismus in Europa eingeführt hat, und später Kohl, Blair und Schröder.

Was bedeutet dies für die Linke? Wir müssen diese Dichotomie in unserem Verständnis der EU überwinden und begreifen, dass die Konstellation viel komplexer und verflochtener ist, da der nationale Staatsapparat Teil dieses neuen Ensembles von vernetzten europäischen Staatsapparaten ist. Für eine politische Bewegung bedeutet dies, dass sie auf all diesen verschiedenen Ebenen operieren muss: auf der europäischen, der nationalen, der regionalen, und selbst auf der lokalen Ebene. Protest und Widerstand ist aus europäischer Sicht überfällig; Occupy, Blockupy und viele andere Beispiele stellen richtige Ansätze dar, wie zu verfahren ist.

In diesem Sinne ist es auch notwendig, die neoliberale Umstrukturierung nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene zu bekämpfen. Es ist ebenfalls wichtig, gegen die Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten und Kanada zu mobilisieren, und ich halte es auch für sinnvoll, gegen die EZB zu protestieren. Auf der anderen Seite stimme ich Juan Roch dahingehend zu, dass wir die EU als institutionelles Feld für unsere Kämpfe nutzen müssen. So ist es für uns z.B. zweckmäßig, wenn wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nutzen, um potenziell Menschenrechte zu stärken. In diesem Sinne sollten wir auch Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Grenzen sowie Verletzungen von Menschen- und Arbeiterrechten in der Austeritätspolitik leisten.

Es wäre eine Illusion anzunehmen, dass der Neoliberalismus beendet wird, wenn wir die EU oder den Euro überwinden: Weder die EU noch der Euro sind Werte an sich. Ich werde keine Währung verteidigen und auch keinen institutionellen Rahmen, der offenkundig Teil der neoliberalen Konstellation ist. Dennoch kann auch die Re-Nationalisierung keine Option für eine linke Bewegung sein, also zu glauben, dass man sich nur auf nationaler Ebene organisieren oder die EU verlassen kann. Dies würde zu einer Stärkung national-populistischer Bewegungen und nationaler neoliberaler Kräfte führen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die erste starke neoliberale Bewegung im Vereinigten Königreich entstand: Sie war eine national-populistische und eine neoliberale Bewegung gleichzeitig.

Was kann also getan werden? Ich denke, wir müssen mit der neoliberalen Hegemonie und ihrer strukturellen Macht brechen. Die neoliberale Hegemonie befindet sich bereits in einer Krise – nicht nur im europäischen Süden, sondern auch hier in Deutschland. Diese Krise der neoliberalen Ideologie führt jedoch nicht notwendigerweise zu einem Erfolg der Linken, sondern beinhaltet auch die Gefahr, rechte Bewegungen zu stärken. Krise bedeutet Angst, und Angst führt zu Regression. Die Linke muss konkrete Alternativen schaffen, und zwar solche, die in kleinen Schritten realisiert werden können – nicht nur die Weltrevolution, die zwar eine gute Idee ist, sich aber in weiter Ferne befindet. Wir brauchen kleine Schritte und klare, konkrete Alternativen, wie sie etwa die 15-M-Bewegungen oder Bewegungen gegen Privatisierungen entwickelt haben. Für Linke ist es wichtig, Teil dieser Bewegungen zu sein. Aber nicht auf instrumentelle Art und Weise, sondern in der Form des gemeinsamen Lernens, um neue Alternativen zu finden, für eine Stärkung des Individuums gegen alltägliche Erniedrigung – nicht jedoch in der Form der Avantgarde. Dies muss auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene geschehen.

Die Transformation des Neoliberalismus kann vielleicht das Terrain für weitergehende emanzipatorische Prozesse verändern. Doch eine andere Form des Kapitalismus, die sich vom Neoliberalismus unterscheidet, stellt keine Lösung dar, sondern allenfalls einen ersten Schritt. Sie wäre keine Lösung dafür, soziale Ungleichheit, Klimawandel, Rassismus oder Sexismus abzuschaffen: Um dies zu erreichen, müssen wir die Gesellschaft auf fundamentalerer Ebene verändern.

Nikos Nikisianis: Ich möchte kurz und knapp die wichtigsten Ereignisse der letzten sechs Jahre in Erinnerung rufen. Im Jahre 2009 betrat Griechenland die Ära der jüngsten kapitalistischen Krise, die kurz darauf zur ersten Kapitalisierung von Banken mit öffentlichem Geld führte, sich in eine öffentliche Schuldenkrise transformierte und den griechischen Staat de facto zum Scheitern brachte. Zu diesem Zeitpunkt kam die EU ins Spiel, um die griechische Bourgeoisie in einem zweigleisigen Prozess zu retten: Zum einen verhinderte sie das Scheitern des griechischen Staates, und gleichzeitig das Scheitern der privaten europäischen Banken, indem sie Griechenland einen erneuten, riesigen Kredit gewährte, damit es seine Schulden bezahlen konnte; zum anderen band sie diesen Kredit an eine Übereinkunft – das sogenannte „Memorandum“. Dieses erzwingt einen genauso großen Transfer aus dem Einkommen der Arbeiterklasse hin zum Kapital; es zerstört soziale, politische und Arbeiterrechte, um das Kapital aus der Krise zu führen und zu positiven Wachstumsraten zurückzukehren.

Das Memorandum führte zu Protesten und dem Wachstum sozialer Bewegungen, die schlussendlich im Wahlsieg SYRIZAs mündeten. SYRIZA gewann die Wahl im Januar 2015 mit dem Versprechen, die Austeritätspolitik zu beenden, bei gleichzeitigem Verbleib Griechenlands in der EU und Eurozone. Sie akzeptierte also die weitverbreitete Annahme, dass ein „Grexit“ zu einer unvorstellbaren sozialen Katastrophe führen würde. Um diesen offensichtlichen Widerspruch zu lösen, trat die Regierung von SYRIZA in einen lang anhaltenden Verhandlungsprozess mit der EU. Obwohl die Regierung zahlreiche Zugeständnisse machte, schienen die Verhandlungen im Juni 2015 in eine Sackgasse geraten zu sein, und die Möglichkeit eines Zusammenbruchs wurde absehbar. Zu diesem Zeitpunkt verkündete sie das Referendum des 5. Juli.

In den acht Tagen einer sehr kurzen, aber intensiven Wahlperiode traten vielleicht zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Griechenlands – oder sogar Europas – zwei gegensätzliche Klassenlager in Erscheinung: Auf der einen Seite stand die gesamte griechische Bourgeoisie – politische und finanzielle Eliten, alle traditionellen Parteien, Banken, Unternehmen, die Medien, selbst professionelle Gewerkschaften und die Arbeiterbürokratie. Sie waren eine Einheitsfront für das „JA“. Ihr zentraler Slogan war: „Wir haben Europa geschaffen“. Auf der anderen Seite stimmte die große Mehrheit der unteren Klassen, trotz des massiven ideologischen und ökonomischen Terrorismus, für „NEIN“. Schon wenige Stunden nach dem Referendum wurde deutlich, dass die griechische Regierung bereits entschieden hatte, sich der EU zu unterwerfen. Die einzige Begründung der Führung von SYRIZA für diese unglaubliche Pirouette war der gute alte Spruch: „Es gibt keine Alternative“ außerhalb der Eurozone und der EU. Einmal mehr hatte die EU das griechische Volk vor katastrophalen Entscheidungen bewahrt – und die griechische Bourgeoisie vor ihren Klassenfeinden, kurz nach ihrer Niederlage im Referendum. Alle diese Entwicklungen machten deutlich, dass die EU und der Euro ein unersetzbarer Stützpfeiler der griechischen Bourgeoisie sind. In den letzten sechs Jahren hat die EU Griechenland vor einer Schuldenkrise, vor einer ökonomischen Krise, vor einer politischen Krise, von einer Krise der Repräsentation, selbst vor einer radikal linken Regierung, die als Klimax einer politischen Krise angesehen werden kann, bewahrt – oder zumindest versucht zu bewahren.

Die anhaltenden Wirkungen der Mitgliedschaft Griechenlands in der EU können wie folgt zusammengefasst werden: Zuallererst – viele Jahre vor dem Memorandum – haben die europäischen Verträge von Maastricht und Lissabon die Liberalisierung der griechischen Wirtschaft sowie den Abbau des Sozialstaats und von Arbeiterrechten vorangetrieben. Dadurch gewährleisteten sie der griechischen Bourgeoisie entscheidende Hilfe in einer Periode, in der es ihr an politischer Macht und Glaubwürdigkeit mangelte. Noch mehr als das: Die EU spielte eine Rolle in der Restrukturierung der produktiven Basis in Griechenland. Die gemeinsame europäische Industriepolitik führt die Deindustrialisierung fort. Die gemeinsame Agrarpolitik führte trotz – oder besser: wegen – der großzügigen Subventionen zu einem Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion und zur Aufgabe der traditionellen kleinbäuerlichen Produktion. In dieser neuartigen ökonomischen Situation wurden europäische Förderprogramme zur zentralen finanziellen Ressource für die griechische Wirtschaft und schufen eine abhängige, unproduktive Struktur. Die gleichen Programme fungierten als trojanisches Pferd für die Verlagerung und Prekarisierung von Arbeitsbeziehungen und ersetzten Lohnarbeiter durch prekarisierte Selbständige. Des Weiteren unterstützten diese Programme die Formierung einer neuen finanziellen und politischen Elite, die stark von der EU abhängig ist.

Es ist deutlich geworden, dass die EU ein imperialistisches Projekt von kapitalistischen Staaten ist. Sie ist durch eine klare innere Hierarchie gekennzeichnet, die eine bestimmte Teilung von Arbeit, Macht und Reichtum erzwingt. Die EU ist insofern ein imperialistisches Projekt, als sie ausdrücklich in den Wettbewerb zwischen kapitalistischen Kräften eingreift, um die Interessen der jeweiligen nationalen Bourgeoisie zu fördern. Gleichzeitig ist die EU ein neoliberales Projekt, da es ihren Mitgliedern durch ihre Verträge sowie durch Memoranden, Direktiven und Programme eine neoliberale Politik aufzwingt, die die Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals und gegen die Arbeit verändert.

Aus dieser Perspektive könnten wir annehmen, dass die europäische Linke per definitionem gegen die EU sein sollte. Allerdings wissen wir, dass dies nicht der Fall ist – zumindest nicht für die Mehrheit der linken Parteien und sozialen Bewegungen in Europa. Ich halte diesen Widerspruch für sehr verständlich: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde „Europa“ zum Knotenpunkt der herrschenden Ideologie – nicht nur der herrschenden Klasse, sondern auch der Ideologie der Unterdrückten. Im Europa der Nachkriegszeit wurde die Idee eines vereinten Europas mit Frieden und Demokratie verknüpft, natürlich in Konkurrenz zum sowjetischen Sozialismus.

Später wurde die Teilhabe an Europa auf abstrakte Weise mit einer Hoffnung auf Prosperität und soziale Gerechtigkeit in Beziehung gebracht und eng mit dem sozialdemokratischen Versprechen verbunden; besonders im Süden Europas verband sich die Hoffnung auf soziale Mobilität in spezifischer Weise mit Europa. Diese Verbindung zwischen Europa auf der einen Seite – ein imperialistisches, neoliberales Projekt, das von den europäischen Bourgeoisien erzwungen wurde –, und der weitverbreiteten sozialen Hoffnung auf Demokratie, Frieden und Prosperität auf der anderen Seite, reflektiert die ökonomische, ideologische und politische Hegemonie der Bourgeoisie über die Arbeiter, und ihren Sieg gegen die kommunistische Bewegung nach den 70er Jahren.

Es ist kein Zufall, dass Europa genau zu dem Zeitpunkt geeint wurde, als dieser Sieg seinen Höhepunkt erreichte: kurz nach 1989. Aufgrund dieser zentralen Rolle Europas innerhalb der herrschenden Ideologie war es für die europäische Linke sehr schwierig, das europäische Projekt abzulehnen. Statt einer radikalen Kritik unterscheidet die europäische Linke zwischen Europa in abstracto, als einem universell akzeptierten Wert, und der wirklichen, existierenden EU mit ihrer Politik, ihren Verträgen und Institutionen. Dies ist eine wohlbekannte Art mit Niederlagen in ideologischen Konflikten umzugehen: Anstatt die zentralen Bestandteile der herrschenden Ideologie anzugreifen und ihnen etwas entgegenzusetzen, neigen die unterdrückten Klassen bzw. die Linke dazu, diese zu akzeptieren und zu unterstützen. Sie behaupten, dass die herrschenden Klassen diese nicht mehr ehrlich und wirksam vertreten kann oder will. Wenn wir uns z.B. die Diskussion auf der Linken über Demokratie in Erinnerung rufen, so sehen wir eine Akzeptanz wesentlicher Bestandteile der herrschenden Ideologie. Diese Sichtweise der europäischen Linken prangert die europäische Führung an, nicht europäisch genug zu sein. Sie behauptet, dass allein die Linke wahrhaft die traditionellen europäischen Werte repräsentiert und das Projekt einer wirklichen europäischen Vereinigung unterstützen kann. In Wirklichkeit ist die Linke aus dieser Perspektive jedoch verpflichtet, die existierende EU zu unterstützen; sie beschäftigt sich daher vornehmlich mit der herrschenden europäischen Politik.

Natürlich können wir diese Strategie nicht einfach so verurteilen: Sie hat sich als äußerst nützlich im politischen und ideologischen Kampf erwiesen. Wenn sich die Linke dazu entscheiden würde, alle herrschenden Werte auf einmal zu verwerfen und zu bekämpfen, würde sie sicherlich marginalisiert werden. Doch wenn die sozialen Bewegungen die Rituale der herrschenden Ideologie immer wieder rezitieren, müssen sie sich zumindest klarmachen, dass dies ein feindliches und gefährliches Territorium darstellt. Die Akzeptanz herrschender Werte und ihre Verwendung gegen die herrschenden Klassen mag eine nützliche Waffe sein, aber es kann die Linke auch innerhalb der herrschenden Ideologie gefangen halten – genau dies ist mit SYRIZA passiert. SYRIZA scheiterte daran, Europa zu verteidigen insoweit, als es sich keine Zukunft außerhalb der Eurozone vorstellten konnte. Dies führte dazu, dass SYRIZA ihre eigene Politik verleugnete und das Austeritätsmemorandum akzeptierte, also aufgab und sich der neoliberalen europäischen Führung unterwarf. Es kommt also ein Moment, in dem die Linke nicht mehr mit den herrschenden Werten in Europa verbunden bleiben kann, ohne sich selbst zu verleugnen. Dieser Moment kam – zumindest in Griechenland – im Juli 2015. Es ist keine Neuigkeit, dass es nur ein Europa gibt, und wir müssen entscheiden, ob wir in Europa bleiben wollen – und damit diese herrschende Politik, Werte und Verträge akzeptieren – oder nicht.

Martin Suchanek: Die EU ist ein imperialistisches Projekt, und war es schon immer. Sie ist offensichtlich ein aufstrebender imperialistischer Block, der von einer Macht – Deutschland – dominiert wird, in Kollaboration, aber auch im Konflikt mit anderen, seit Langem bestehenden historischen imperialistischen Mächten. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus betrachtet ist dies einer der Gründe, die es so schwierig machen, Europa auf kapitalistischer Basis zu vereinigen. Es bedeutet schlussendlich auch, dass nicht nur die Beziehungen zwischen Deutschland und z.B. Griechenland, Osteuropa und anderen Ländern (die ohnehin seit langer Zeit vom Imperialismus beherrscht wurden) reorganisiert und angepasst werden, sondern auch die zwischen den seit Langem bestehenden imperialistischen Mächten wie England, Frankreich oder Russland. Die Zukunft der EU und der Eurozone als solcher ist keinesfalls sicher gegeben, sondern kann aufgrund dieser inneren Spannungen implodieren. Es ist wichtig, dies zu begreifen.

Die EU ist immer ein imperialistisches Projekt gewesen, doch das bedeutet nicht, dass sie immer gleich war. Seit 1990, und besonders seit der globalen kapitalistischen Krise von 2007/08, die eine neue, langwierige Krisenperiode bedeutet, die noch lange nicht vorüber ist, befinden wir uns in einer neuen Periode im Kampf der imperialistischen Mächte um die Neuaufteilung der Welt: die USA als traditionelle Hegemonialmacht, China als neue, aufstrebende Macht, und natürlich Deutschland als führende Macht in Europa. Deutschland möchte die EU in einer Art und Weise neu organisieren, sodass es an diesem Wettlauf um Weltherrschaft, um die Neuaufteilung der Welt, mithalten kann. Dies ist einer der Gründe, warum jegliche Vorstellung einer „weniger aggressiven“ Politik letzten Endes utopisch ist. Die Politik der deutschen imperialistischen Bourgeoisie oder anderer Bourgeoisien in Europa ist einerseits von inneren Klassenbeziehungen und dem Versuch bestimmt, die Kosten der Krise auf die Arbeiterklasse und die Armen abzuwälzen, andererseits aber auch vom globalen Kampf um die Neuaufteilung der Welt, um eine noch effektivere, homogenere, dominantere und schlagkräftigere Weltmacht zu werden.

In Griechenland konnten wir sehen, was dies praktisch bedeutet und wie weit die herrschende Klasse und die europäischen Institutionen gehen, um dies zu erreichen. Heutzutage ist es Griechenlands Schicksal, ein Protektorat der europäischen Institutionen zu werden; selbst rein formal betrachtet ist es ein viel weniger unabhängiger Staat als davor. Die europäischen Großmächte setzen ihren Willen durch, indem sie eine große ökonomische Zone, eine einheitliche Währung und einen gemeinsamen Markt für Arbeiter, Güter usw. schaffen und überwinden dadurch die engen Grenzen des Nationalstaats. Im Kapitalismus und Imperialismus kann dies letztlich nur durch Zwang erreicht werden – durch die Unterordnung der Schwächeren unter die hegemoniale Herrschaft einer oder mehrerer imperialistischer Mächte. Politisch müssen wir daher innerhalb der EU arbeiten, genau wie wir innerhalb des deutschen Staates arbeiten müssen. Wir haben keine Wahl, solange wir ihn nicht abschaffen oder überwinden können. Doch wir müssen jegliche Vorstellung verwerfen, dass die EU reformiert oder sozialer gemacht werden kann. Selbst ein soziales Europa wäre schlussendlich ein sozial-chauvinistisches Europa, das der Arbeiterklasse zwar hier und da ein paar Brotkrümel hinwirft und Zugeständnisse macht, aber dennoch eine mächtige Triebkraft der Weltherrschaft wäre.

Wenn einzelne Nationalstaaten die EU oder die Eurozone unter Bedingungen eines kapitalistischen Marktsystems verlassen, löst dies allerdings keine Probleme. Selbst ein unabhängiges Griechenland mit der Drachme als Währung wäre immer noch ein abhängiges, halb-koloniales Land, das ökonomisch vielleicht sogar in einer noch schlimmeren Situation wäre als jetzt. Wir müssen die Frage stellen: Welche Klasse herrscht? Wer organisiert die Gesellschaft wirklich? Natürlich wären wir dafür, Griechenland zu erlauben aus der EU auszutreten, wenn dies das griechische Volk möchte. Aber in Deutschland sollten wir nicht dafür eintreten, die EU zu verlassen.

Es wäre eine Illusion zu glauben, dass wir allein durch einen Austritt eine schwächere, weniger aggressive oder weniger reaktionäre Regierung hätten. Dem stellen wir folgende Fragen entgegen: Was für ein Sozialsystem brauchen wir? Was ist die wirkliche Klassenbasis eines reorganisierten Europas? Natürlich müssen wir Europa vereinigen und die historischen Spannungen auf dem Kontinent überwinden – nicht nur innerhalb der EU, sondern auch außerhalb, z.B. mit Russland. Wir sind nicht dafür, die Existenz zahlreicher kleiner Staaten und insbesondere von Staatsgrenzen zu verteidigen. Um diese Vereinigung auf langanhaltende und progressive Weise zu erreichen, muss sie mit der Frage kombiniert werden: Wer regiert wirklich? Welche Klasse herrscht hier?

Wir fordern weder eine reformierte EU noch einen EU-Austritt, sondern ein sozialistisches Europa: die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas. Dies ist ein strategisches Ziel und mir ist bewusst, dass wir dies nicht einfach so erreichen können. Wir benötigen eine politische Diskussion innerhalb der radikalen Linken in Europa, innerhalb der revolutionären Linken, innerhalb antikapitalistischer Kräfte, um die Frage zu beantworten: Was ist unser Programm für die Reorganisation Europas? Welche Alternative zum imperialistischen Europa bieten wir an? Welche Schritte müssen wir unternehmen, welche Art von Forderungen brauchen wir, und wie verbinden wir sie miteinander? Wie sähe das Aktionsprogramm aus – wäre es ein Übergangsprogramm auf kontinentaler Ebene?

Hinsichtlich sozialer Forderungen sehe ich keine prinzipielle Differenz darin, z.B. für eine 30-Stunden-Woche allein in Deutschland oder in ganz Europa zu kämpfen – es wird ohnehin zahlreiche Kämpfe geben. Diese Forderungen könnten soziale Bewegungen und die Arbeiterklasse auf europäischer Ebene vereinigen. Vor dem OXI-Referendum, also vor dem Verrat SYRIZAs, konnten wir in Griechenland eine Situation beobachten, wo die Frage wer regiert – welche Klasse regiert – wirklich gestellt wurde. Es gab eine Abfolge von Generalstreiks, die die Frage nach einer Arbeiterregierung stellten, also einer Regierung, die von allen bürgerlichen Parteien unabhängig ist (auch von ANEL), die eine starke Position gegen die herrschende Klasse und die imperialistischen Besitztümer vertritt und diese Frage nicht als schleichenden Sozialismus in Griechenland, sondern als vereinten europäischen Kampf ansieht.

Wir haben es mit einer globalen, politisch-ökonomischen Krise des Kapitalismus zu tun, die gleichzeitig eine historisch tiefe Krise der EU darstellt. Anders als z.B. 1968 ist die radikale Linke in Europa daran gescheitert, sich zu koordinieren und nicht nur Konferenzen über Strategiefragen zu organisieren. Wir müssen auf europäischer Ebene gemeinsam kämpfen und unseren Internationalismus auf praktische Weise als politisches Programm anbieten. Um diese Frage müssen wir uns organisieren. Es geht nicht nur um ein paar Aktionen. Es geht darum, sich darüber zu verständigen, wie unsere Politik aussehen soll, was unser Programm ist und wie wir das imperialistische Europa stürzen und durch die Sozialistischen Vereinigten Staaten ersetzen können.

Diskussion

JR: Wir, die vier Sprecher, teilen mehr oder weniger dieselbe Definition der EU. Die Abweichungen voneinander zeigen sich eher in Bezug auf die Bedeutung der Kämpfe. Was können wir aus den zeitgenössischen Erfahrungen, wie der Erfahrung von SYRIZA, lernen? Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können sie entweder als reformistische Partei verstehen, die den Kampf der populären Klassen verraten hat. Und daraus können wir folgern, dass wir eine revolutionäre Partei brauchen, um diese Situation zu überwinden. Dann stehen wir jedoch vor dem Problem, dass eine große revolutionäre Partei nicht in der Lage ist, eine Verbindung mit der Bevölkerung herzustellen. Die andere Möglichkeit besteht darin, das Scheitern von SYRIZA nicht im Mangel an einer revolutionären Partei in Europa und Griechenland begründet zu sehen, sondern darin, dass wir keine Macht in der Gesellschaft oder in der Arbeiterklasse haben.

Wenn wir dieses Problem verstehen, müssen wir z.B. von der 15-M-Mobilisierung Spanien lernen, die nichts mit revolutionärer Politik zu tun hatte. 15-M ist eine Bewegung von Leuten, die demokratische Forderungen stellen, z.B. in Bezug auf Korruption. Wir können uns nicht auf eine revolutionäre Situation in der Zukunft fokussieren, weil es zu der vielleicht niemals kommt. Wenn wir nicht darüber nachdenken das Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft wiederherzustellen, dann wird unsere revolutionäre Partei wenig Anziehungskraft haben. Wenn wir etwas lernen wollen, sollten wir über unsere Schwäche in der Gesellschaft nachdenken und an diesem Punkt arbeiten.

JW: Ich würde nicht warten wollen, bis die Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa eingerichtet sind. Wir brauchen kleinere Schritte, um die Gesellschaft zu verändern. Wir können nicht bis zu dem magischen Moment warten, an dem all diese Probleme durch die Revolution gelöst werden. Wir müssen Reformisten sein, um die Konstellation, innerhalb der wir kämpfen, zu ändern. Genauso wie wir im Nationalstaat kämpfen, den wir als ein Feld von Klassenkämpfen, Kämpfen gegen Sexismus, gegen Rassismus etc. verstehen, müssen wir die EU auf dieselbe Weise als Kampffeld benutzen und akzeptieren.

Es war das große Verdienst von SYRIZA, dass es der ganzen Welt klargemacht hat, um was es im Neoliberalismus und der Diktatur des Finanzkapitals geht. Sie sagten mehr oder weniger: „Ihr könnt uns töten, aber nicht hinter der Bühne. Ihr werdet es genau hier tun, während die ganze Welt zuschaut.“ Das war ein wichtiger Schlag gegen die Legitimität der EU und, in der Tat, gegen den Neoliberalismus selbst. Irgendwann war SYRIZA mit zwei Alternativen konfrontiert, die beide katastrophal waren. Niemand konnte sagen, welche schlimmer wäre. Wir müssen also langfristig denken. Ein kleines Land ist nicht in der Lage, die weltweite neoliberale Konstellation in einem Jahr zu ändern.

NN: Ja, es war nützlich, dass Tsipras die europäische Führung dazu genötigt hat, ihn öffentlich abzuschießen. Aber das Programm, das dadurch starb, das war nicht von Tsipras, sondern das der griechischen Gesellschaft. Tsipras regiert immer noch und verhandelt mit der europäischen Führung.

Ich möchte betonen, dass unsere Strategie in Bezug auf die EU stark von dem Ort und der Zeit abhängt. Vor 2015 hätte ich vielleicht sogar gesagt, dass der Grexit nicht notwendig ist, um gegen die herrschende Politik zu opponieren. Die sozialen Bewegungen und die politische Linke in Griechenland hätten sich dann um ein Anti-Austeritäts-Projekt vereinigen können. Aber das ist heute nicht mehr der Fall. Es wurde klar, dass es innerhalb der EU keine Alternative für irgendwelche sozialistischen Reformen oder eine sozialistische Revolution gibt, nicht einmal für die geringsten Reformen, um die Situation der Menschen und der Arbeiterklasse zu verbessern. Vielleicht ist dies nicht der Fall für andere Länder. Aber wenn es auf Griechenland zutrifft, trifft es dann nicht vielleicht auch auf andere zu?

MS: Grundsätzlich stimme ich Juan von Podemos zu, auch wenn sicherlich Uneinigkeit besteht über die Strategie und die Politik, für die wir uns einsetzen sollen. Warum ist SYRIZA gescheitert? Was ist das Problem mit radikalem Reformismus als Strategie? Ich bin nicht dagegen, für Reformen zu kämpfen. Es war nie das Problem der Revolutionäre, dass wir nicht für Verbesserungen kämpfen dürfen – im Gegenteil, jede Bewegung der Arbeiterklasse muss für bessere Löhne, bessere Bedingungen, mehr demokratische Rechte usw. kämpfen. Aber wir stehen einer anderen Situation als in den 1960er Jahren gegenüber, als es möglich war, dass die Kapitalistenklasse und die kapitalistische Akkumulation sich dynamisch entwickeln konnten und viele imperialistische Länder Teile der Arbeiterklasse durch erhöhten Konsum vereinnahmen konnten. Diese Periode ist vorbei, weshalb der Neoliberalismus so stark und dominierend ist. Dies kommt jedoch nicht daher, dass die Bourgeoisie sich plötzlich entschieden hat, eine andere Ideologie zu wählen. Schlussendlich ist das Problem die Überakkumulation des Kapitals und die sinkende Profitrate. Das ist es, was die Bourgeoisie angehen muss, damit ihr System wieder funktioniert.

Dieses Problem kann angegangen werden, indem man der Arbeiterklasse über längere Zeit Konzessionen macht. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter nicht diesen oder jenen Kampf gewinnen können, aber sie werden nicht in der Lage sein, ihre Errungenschaften in so einer Situation langfristig zu verteidigen. Deswegen muss man die Kämpfe mit einer strategischen Zielsetzung verbinden. So kann man es den Menschen in diesem System klarmachen, dass diese oder jene Verbesserungen erreicht werden können, sie aber letzten Endes scheitern werden. Man braucht tatsächlich eine politische Lösung, die ins Herz der Materie trifft, oder man wird von der sozialen Realität demoralisiert werden.

Publikumsfragen

1. Von der anderen Seite des Atlantiks kommend, wurde mein Interesse als Außenseiter durch etwas Merkwürdiges in der Diskussion der europäischen Krise erregt, und das ist der Slogan der „Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa“, der hier geäußert wurde. Niemand scheint sich für die sehr naheliegende Vorstellung von bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa einzusetzen. Selbst die europäische Bourgeoisie scheint keine föderale Union zu errichten. Würdet ihr einen vereinigten, föderalen Staat in Europa auf bürgerlicher Grundlage als Fortschritt oder als Rückschritt erachten, und ist dieser überhaupt möglich? Welche Rolle spielt die Tatsache, dass die EU auf Nationalstaaten basiert? Wie hängt dies zusammen mit dem Verhältnis von Europa und den USA im globalen Maßstab?

2. Es scheint Teil der US-Politik zu sein, die völlige Integration zu verhindern, und das Werkzeug dafür ist Großbritannien. Könntet ihr dazu etwas sagen? Auf der anderen Seite wurde während der Phase der meisten Generalstreiks in Griechenland die Frage „Wer herrscht?“ gestellt, die nun beantwortet ist. Wer herrscht? In Griechenland: Merkel. Das Problem ist, dass die EU ein Instrument der europäischen Bourgeoisie ist, um abgestimmt zu handeln und sie kann sehr leicht ein Land wie Griechenland zerschlagen und wesentlich leichter noch kleinere konkrete Experimente. Wir brauchen eine vereinte koordinierte politische Organisation der Arbeiterklasse in ganz Europa. Ob wir an kommunistische Parteien glauben oder nicht, wir müssen die politischen Projekte der Linken auf der höchsten Organisationsstufe, die wir im kontinentalen Maßstab erreichen können, verfolgen.

MS: Föderalistische Staaten von Europa wurden nicht realisiert, weil Europa national-imperialistisch ist: es wird von Nationalstaaten dominiert. Wer möchte eine Vereinigung, die keine Föderation von Gleichen, sondern die Dominanz von Einem ist? Sie wäre ein Fortschritt, aber unter imperialistischen Bedingungen ist sie nicht zu realisieren. Nur die Arbeiterklasse könnte Europa auf diese Weise vereinigen. Die Frage nach dem Verhältnis von USA und EU wirft ein großes Problem auf. Wenn wir an die Situation in der Ukraine denken, dann ist dies nicht nur ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Die USA haben ein Interesse daran, eine Situation permanenter Spannungen an der Grenze zwischen zwei Rivalen aufrechtzuerhalten.

Zu Großbritannien: Es ist so etwas wie das Trojanische Pferd der USA innerhalb der EU, obwohl die britische Bourgeoisie über diese Frage streitet. Wir müssen über revolutionäre Einheit auf politischer Ebene in Europa nachdenken; über eine revolutionäre Partei in Europa und über Europa hinaus. Aber wenn wir nicht in der Lage sind unsere Aktivitäten zu koordinieren, zumindest in dem Maß, wie es die Bourgeoisie macht, werden wir scheitern.

NN: Zur Perspektive eines föderalen Europas als Organisationsstruktur der EU habe ich keine bestimmte Meinung. Die existierende EU mit ihren Institutionen und Verträgen reicht aus, um die Interessen der herrschenden Klasse zu vertreten. Ich möchte die Frage, wer Griechenland beherrscht, kommentieren. Ich kann akzeptieren, dass es eine Sprachwendung ist, aber letztendlich ist es falsch zu sagen, Merkel beherrsche Griechenland. Griechenland wird immer noch von seiner eignen herrschenden Klasse regiert – seiner eigenen Bourgeoisie, von SYRIZA und Alexis Tsipras. Diese Regierung wurde in demokratischen Wahlen bestätigt. Der Feind der sozialen Bewegungen und der griechischen Linken befindet sich in unserem eigenen Land: unsere Bourgeoisie und unsere Regierung. Das führt uns zu der Frage nach der Möglichkeit, soziale Bewegungen europaweit zu koordinieren, und nach einer vereinten revolutionären Partei der Linken. Meine Gruppe, Diktio, hat sich von Anfang an sehr intensiv am europäischen Sozialforum in Florenz und an anderen Versuchen, eine europäische soziale Bewegung zu koordinieren, beteiligt. Diese Versuche haben eine klar definierte Grenze und der Sieg eines sozialen Kampfes muss auf nationaler Basis erreicht werden. Unser Feind bleibt in unserem Land. Das heißt nicht, dass wir den Widerstand gegen neoliberale Einschnitte nicht europaweit koordinieren sollten, aber wir können nicht auf eine sozialistische Union in Europa warten, um die neoliberale Politik und die neoliberalen Regierungen in Griechenland umzustürzen.

JW: Ja, die bürgerlichen „Vereinigten Staaten von Europa“ sind ein Fortschritt. In den 50er und 60er Jahren gab es eine große Arbeitsmigration nach Deutschland aus Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. Diese Arbeiter hatten hier fast keine sozialen oder politischen Rechte. Nun sind sie EU-Bürger und können hier Sozialleistungen beantragen. Dies sind zwar nur kleine Schritte, die aber dennoch einen konkreten Fortschritt darstellen. Die Rolle der USA gegenüber der EU ist natürlich wichtig, aber ich war überrascht, dass im ganzen Verhandlungsprozess zwischen der Eurogruppe und Griechenland die Rolle der USA nicht sehr bedeutend war. Es gab einige Telefonanrufe von Obama nach Berlin, aber Deutschland hat offensichtlich nicht reagiert, was zeigt, dass die US-Hegemonie sich auch in einer Krise befindet. Dies ist auch Ausdruck des globalen Charakters der Krise.

3. Wie würde es aussehen, wenn die Linke wieder wirklich international werden würde? Die Frage, wie man versucht, die EU zu den USA und anderen Ländern in Beziehung zu setzen, ist wichtig, weil viele Einstellungen der Linken in ganz Europa sehr anti-amerikanisch sind. Die USA sind zwar eine Hegemonialmacht, aber manchmal verschleiert das die Frage der Solidarität mit der dortigen Arbeiterklasse. Welchen Weg würdet ihr vorschlagen, um von unserem aktuellen Zustand zu einer internationaleren Linken zu gelangen? Was hat zum Zerfall des Internationalismus auf der Linken geführt?

Wie hat Internationalismus sich in den letzten ein oder zwei Jahren innerhalb Europas manifestiert, wo wir Podemos und andere neue Parteien haben? Wie funktioniert so ein Internationalismus in eurer konkreten politischen Praxis?

JR: Das Problem hinsichtlich der Beziehung von Podemos zu SYRIZA ist, dass wir nur in Spanien und Griechenland Krisenregimes haben. Weder in Deutschland noch im Vereinigten Königreich oder in den meisten anderen EU-Ländern haben wir ein Krisenregime (der Begriff stammt von Gramsci). Das ist das Problem. Wir haben Kontakt zu zahlreichen Parteien, aber nicht viele von ihnen haben die Möglichkeit, die fehlende Einigkeit der politischen Eliten auszunutzen, wie es in Griechenland und Spanien der Fall ist. Wir haben zwar eine gute Verbindung zu Syriza, doch gleichzeitig ist es wichtig, pan-europäische soziale Bewegungen oder Netzwerke aufzubauen. Hier in Deutschland zum Beispiel gab es eine starke Bewegung gegen TTIP, aber in Spanien weiß niemand etwas darüber. Wir sollten in diese Richtung arbeiten.

NN: Um mit dem Problem des Nationalismus zu beginnen, würde ich ein sehr grobes Schema vorschlagen: Eine nationalistische Linke glaubt, dass ihre Feinde außerhalb und ihre Freunde innerhalb des Landes sind; eine internationalistische Linke hingegen denkt, dass ihre Feinde innerhalb und ihre Freunde außerhalb des Landes sind. Es ist schwierig sich vorzustellen, was eine internationalistische politische Organisation der Linken heute bedeuten würde, in einer Zeit, in der die Feinde, die Bedingungen und die Kräfteverhältnisse in jedem Land so grundverschieden sind. Wir könnten alle von einer neuen Internationale träumen, aber wir haben sie nicht, weil das heute unmöglich ist. Ich will nicht sagen, dass eine Internationale nicht wünschenswert wäre, oder dass sie den sozialen Kämpfen auf der nationalen Ebene nicht helfen könnte. Wir sollten wieder bei den politischen Bewegungen ansetzen, die schon seit vielen Jahren bestehen und gewöhnt sind, sich zu koordinieren. Die Solidaritätsbewegung für das griechische Volk und die griechische Regierung bis Juli 2015 war ein sehr gutes Beispiel, das Resultate hätte bringen können. Leider wurde sie besiegt, als die Syriza-Regierung sich für den Rückzug entschied.

MS: Was wir in Bezug auf die Frage des Internationalismus wirklich brauchen, ist eine internationale politische Organisation, eine internationale Partei. Die Beziehung zwischen der internationalen Partei und ihren verschiedenen Sektionen in unterschiedlichen Ländern kann einer nationalen Partei ähneln, die verschiedene Zweige in verschiedenen Regionen hat, die natürlich unter ziemlich unterschiedlichen Bedingungen arbeiten. Wenn ich über eine Partei rede, dann meine ich eine leninistische Partei, eine revolutionäre Partei. Genauso wie eine Partei an deutschen Parlamentswahlen teilnehmen kann, wäre es kein Problem, bei den europäischen Wahlen anzutreten. Also das Europäische Parlament als Bühne für Propaganda zu benutzen, um die Bourgeoisie zu denunzieren oder Gesetze zu blockieren, die gegen die Arbeiterklasse gerichtet sind. Natürlich kann man die Gesellschaft nicht durch das Parlament verändern, dazu braucht es eine sozialistische Revolution.

4. Die Gründe, warum es heute keine revolutionäre Partei gibt, scheinen tiefer zu liegen als eine Meinungsverschiedenheit darüber, wie wir uns organisieren sollten. Das Projekt der EU hat sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR rasch gewandelt. Wenn wir den Neoliberalismus als nach dem Zusammenbruch marxistischer Politik hegemonial gewordene Kraft verstehen, dann ist die Welt, in der wir leben – und besonders die EU – ein Ausdruck einer zerfallenen und geschwächten Linken. Können wir die historischen Hindernisse untersuchen, die der Gründung einer Organisation mit revolutionär-sozialistischen Ambitionen im Weg stehen? Können wir untersuchen, warum es heute nicht möglich ist, eine internationale revolutionäre Partei zu gründen, die auf grundlegende Weise gegen die herrschenden Mächte in der EU kämpfen kann?

MS: Es gibt eine Reihe von historischen Fehlschlägen der revolutionären Linken, die es dadurch in einem gewissen Sinne verdient, schwach zu sein. Sicherlich machen diese Fehlschläge es sehr schwierig, eine revolutionäre Organisation zu schaffen. Als Trotzkist glaube ich, dass die Vierte Internationale in den 40er bis 50er Jahren aufgehört hat, als revolutionäre Organisation zu existieren. Und es gibt heute viele Organisationen und Strömungen, die behaupten, revolutionär oder kommunistisch zu sein. Man kann der KKE in Griechenland einiges vorwerfen, aber sicher nicht, dass sie sich als zu wenig kommunistisch darstellt. Ich sage nicht, dass das das Modell ist, unter dem wir uns zusammentun sollten. Aber es stellt sich definitiv die Frage, was man als revolutionär auffasst. Man muss politische Inhalte und Programme diskutieren, und das schließt sowohl die Analyse der konkreten Situation als auch generelle Wahrheiten über den Kapitalismus und die Notwendigkeit ihn umzustürzen mit ein. Das bedeutet, zu diskutieren, was für Forderungen gestellt werden sollen und wie man sie mit einem strategischen Ziel systematisiert. Die Gruppen, die heute behaupten revolutionär zu sein, sind weit davon entfernt, Parteien zu sein. Das Problem lässt sich nicht durch eine Fusion all dieser Gruppen überwinden, weil dadurch nur deren Verwirrung kombiniert und Differenzen ignoriert würden.

JW: Was die revolutionäre Partei betrifft, gibt es mehrere Probleme. Seit den 70er Jahren hatten wir dutzende revolutionäre „Massenorganisationen“ in Deutschland, aber offensichtlich gab es keine Revolution. Vielleicht funktioniert es also einfach nicht. Aus meiner Sicht ist eine leninistische Partei eine Bedrohung. Wir hatten zwei große soziale Bewegungen, die gescheitert sind: die sozialdemokratische Bewegung und die kommunistische Bewegung. Meiner Ansicht nach sind sie gescheitert, weil sie autoritär waren und sich am Staat orientierten: sie waren etatistisch. Sie wollten die Gesellschaft aus der Position des Staates und mit der Macht des Staates verändern, was nicht funktioniert. Aber der wichtigste Faktor ist die autoritäre Struktur dieser leninistischen Parteien, die von Rosa Luxemburg kritisiert wurde. Das Problem ist also nicht bloß Stalin, sondern es ging ihm voraus. Was ist also der richtige Weg? Ich weiß es nicht, aber bestimmt muss er von unten erzeugt werden, weil die Revolution demokratisch sein muss. Es ist unmöglich, eine Blaupause dafür zu entwerfen, wie wir uns organisieren und wo wir uns hinbewegen sollten. Eine neue Bewegung muss sich auf neue Arten organisieren und ihre eigene Sprache finden. Wir können nicht hundert Jahre zurückgehen, um Lösungen für unsere Probleme zu finden. Die Gesellschaft hat sich verändert und auch wir müssen uns verändern, wenn wir diese kapitalistische Gesellschaft transformieren wollen. Ich bin nicht generell gegen Parteien, aber sogar Parteien wie Syriza oder Podemos werden ohne eine starke Bewegung auf der Straße scheitern.

5. Syriza und Podemos sind aus der Schwäche der Bewegungen und nicht aus ihrer Stärke hervorgegangen. Wenn unsere Analyse der historischen Situation konkret sein soll, müssen wir das ansprechen. Wie Juan Roch gesagt hat, ist Podemos nur entstanden, weil die Linke gescheitert ist. Es gibt eine Schwäche auf der Ebene der Gesellschaft. Also war die Kapitulation von Syriza nicht ein Scheitern von Syirza, sondern ein Scheitern des Volkes. Während der Verhandlungen hatten wir die größten Demos in Griechenland seit 2011. Ich hätte also gerne, dass Juan Roch klarstellt, was er meint, und welche Lehre Podemos aus der Erfahrung von Syriza in Bezug auf deren Konflikt mit der EU ziehen kann.

JR: Ich habe nicht gesagt, dass es ein Scheitern des Volkes war. Eher rührte es von der Schwäche der sozialen Bewegungen her. Syriza und Tsipras entschieden sich für Verhandlungen mit einer Agenda der Partei und nicht des Volkes. Das Volk muss die politische Agenda aufstellen, aber nicht in einer einmaligen Verhandlung. Das Problem liegt nicht nur bei Syriza, sondern es handelt sich um einen generellen Mangel an Macht in der EU. Wir sollten von Syriza lernen, dass es innerhalb eines kleinen Landes und mit wenig Macht schwierig ist, die Bedingungen zu verändern. Spanien ist in ökonomischer Hinsicht ein bedeutenderes Land, aber nicht bedeutend genug. Wenn wir die Sozialdemokraten in Europa nicht dazu zwingen, ihre Politik zu verändern, wird es uns nicht gelingen, irgendetwas in der EU zu verändern. Syriza wollte mit Matteo Renzi und anderen Sozialdemokraten sprechen, um sie umzustimmen. Offensichtlich geht es nicht darum, was wir denken, sondern es ist eine Frage der Macht. Wir müssen diese Leute zwingen, ihre Politik zu ändern und die Widersprüche nutzen, um einen Weg vorwärts zu finden.

NN: Ihr erinnert euch vielleicht noch, als Alexis Tsipras vor zwei oder drei Jahren gegen Angela Merkel gesprochen hat. Was ich aus all den langwierigen Verhandlungen gelernt habe? Dass die EU von Anfang an konstruiert worden war, um jegliche radikalen sozialen Veränderungen in letzter Instanz zu verhindern. In jüngster Zeit wurde sie in einen Apparat umgewandelt, der neoliberale Veränderungen durchsetzen soll. Aus dieser Perspektive muss die griechische Bewegung einen EU-Austritt unterstützen, allerdings nicht zu allen Bedingungen. Aber unter welchen Bedingungen könnte die Mehrheit der Gesellschaft – die unteren Klassen – überzeugt werden, dieses Risiko einzugehen? Natürlich könnte es nur dann zu so einem Bruch kommen, wenn eine linke Regierung an der Macht ist. Im Falle eines Grexits würde wahrscheinlich nach drei oder vier Jahren eine rechte Partei die Wahlen gewinnen. Erinnern wir uns, was Rosa Luxemburg gesagt hat: dass sich die Geschichte der Arbeiterbewegung von Scheitern zu Scheitern bewegt, dadurch reicher an Erfahrung wird und neue Wege zu einer Veränderung des Landes und der Bewegung eröffnet. Aus dieser Perspektive würde ich auch die zuvor aufgeworfene Frage nach der sozialistischen Union Europas beantworten. Ich halte die Sozialistischen Vereinigten Staaten Europas für einen sehr guten Slogan. Ich bevorzuge allerdings die Vision von Christian Rakovski und die sozialistische Union des Balkans2 – wir hätten viel mehr Gemeinsamkeiten. Aber das ist nichts, was wir durch soziale Kämpfe in Europa voranbringen können. Wir können Brüche verursachen, die den Weg für eine sozialistische Union Europas oder des Balkans oder irgendeine radikale Veränderung, die wir im Auge haben, vorbereiten könnten. Der erste derartige Bruch könnte ein Grexit sein.

MS: Zur Frage des Staates: Man kann einen Staats-apparat, der schon immer der herrschenden Klasse gedient hat, nicht aufrechterhalten, wie die Syriza-Regierung es getan hat. Sie sind sogar daran gescheitert, einige der prominentesten Repräsentanten der alten Administration aus den Ministerien zu werfen. Syriza musste mit einem Apparat arbeiten, der in Wirklichkeit im Interesse der herrschenden Klasse funktioniert. Ein Apparat, der einen sabotiert und dazu zwingt, die eigene Politik zu verändern. Wenn man diesen Apparat nicht auseinandernimmt und durch etwas anderes – z.B. Sowjets – ersetzt, fällt man ihm zum Opfer. Es muss also die Frage des Staates, der Notwendigkeit, ihn niederzureißen, ihn zu zerschlagen, zu zerbrechen, wie auch immer man es nennen will, gestellt werden. In dem letzten Punkt über die Partei und welche Art von Organisation wir brauchen, haben wir offensichtlich Differenzen in Bezug auf den Leninismus. Wir müssen vorsichtig sein, nicht zu sagen: „Da haben wir den schrecklichen Lenin und dann den noch schlimmeren Stalin. Und vielleicht war Trotzki nicht so ein übler Kerl, aber er war Lenin ziemlich ähnlich.“ An dieser Stelle Rosa Luxemburg ins Spiel zu bringen, funktioniert überhaupt nicht. Das versteht man, wenn man sich ihre Praxis in der Sozialdemokratischen Partei in Polen und ihre Schriften ansieht. Man kann etwa die Dinge, die sie über ihre Auffassung der Beziehung von Gewerkschaften und Partei sagt, falsch deuten und instrumentalisieren; aber sie beharrte bestimmt nicht so sehr auf der Spontaneität im strengen Sinne des Wortes, wie viele Leute behaupten. Zu guter Letzt würde dasselbe auch für den guten alten Karl Marx gelten. Wie werden im Kommunistischen Manifest die Kommunisten von anderen Parteien des Proletariats oder der Arbeiterklasse unterschieden? Durch Bewusstsein. Es sind Ideen über Strategie, über das Programm, über die generelle Aufgabe und die Aufgaben der Bewegung. Das müssen wir in die Bewegung einbringen. Tun wir das nicht, versagen wir in unserer Aufgabe als Kommunisten. |P

Übersetzt von

Vadim Arko, Andreas Haller und Markus Niedobitek

1 Workfare: Ein in den 90er Jahren entwickeltes arbeitsmarktpolitisches Konzept, das staatliche Transferleistungen mit einer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme verknüpft.

2 Die Forderung nach einer sozialistischen Balkanföderation wurde in den 1870er Jahren von Svetozar Markovic als Mittel proklamiert, die Unterdrückung der Region durch den Imperialismus zu überwinden. Sie wurde auch von Kautsky, Lenin und Trotzki unterstützt. 1915 gelang Christian Rakovski eine sozialdemokratische Parteiföderation.