Die Politik der Kritischen Theorie
Andrew Feenberg, Richard Westerman, Chris Cutrone & Nicholas Brown
Die Platypus Review Ausgabe #1 | April 2016
Die hier abgedruckte, ins Deutsche übersetzte Podiumsdiskussion fand im April 2011 auf der dritten internationalen Convention der Platypus Affiliated Society in Chicago statt. Ein Transkript der Podiumsdiskussion wurde zuerst in der Platypus Review #37 in englischer Sprache veröffentlicht. Die Teilnehmer – Nicholas Brown von der University of Chicago, Chris Cutrone von Platypus, Andrew Feenberg von der Simon Fraser University Vancouver sowie Richard Westerman von der University of Chicago – wurden gebeten, auf Folgendes einzugehen: Kürzlich veröffentlichte die New Left Review ein übersetztes Gespräch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, das großes Aufsehen erregte. Im Laufe der Konversation sagte Adorno, dass er immer eine Theorie entwickeln wollte, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“. Adorno, so scheint es, war ein Leninist. Doch so überraschend dieser Nachweis für viele auch sein mag – ist es nicht überraschender, dass Adornos Politik und die Politik der Kritischen Theorie so lange tabuisiert waren? War es wirklich notwendig zu warten, bis sich Adorno und Horkheimer schwarz auf weiß zu ihrer Politik bekannten, um zu verstehen, dass sie ihre zentrale Aufgabe darin sahen, das Verhältnis des Marxismus zur kritischen bürgerlichen Philosophie (Kant und Hegel) zu bewahren? Die Podiumsdiskussion zielt darauf ab, diese Frage so direkt wie möglich zu stellen, und fragt: Inwiefern machten die Praxis und die Theorie des Marxismus, von Marx bis Lenin, die Politik der Kritischen Theorie möglich und notwendig?
Eröffnungsstatements
Andrew Feenberg
DAS WARTEN AUF DIE GESCHICHTE: HORKHEIMERS UND ADORNOS THEATER DES ABSURDEN
Im Jahr 2010 übersetzte die Zeitschrift New Left Review einen Dialog zwischen Horkheimer und Adorno über „ein neues Manifest“ (( Horkheimer, M. & Adorno, Th.W. (1956): Diskussion über Theorie und Praxis. In Horkheimer, M. (1988): Gesammelte Schriften, Band 13: Nachgelassene Schriften 1949-1972. Frankfurt/ Main: Fischer, S. 32-72. Im Folgenden im Text zitiert. )). Dieser Dialog, der 1956 stattfand, kann nur vor dem Hintergrund von Marx‘ und Lukács‘ Interpretation der Beziehung von Theorie und Praxis verstanden werden. In diesem Vortrag möchte ich versuchen zu erklären, wie dieser Hintergrund die Produktion des Manifests verhindert und die Diskussion darüber bis zur Absurdität reduziert. Doch zunächst möchte ich zeigen, wie Horkheimer und Adorno dieses Problem angehen. Ihr Dialog ist ein merkwürdiges Dokument. Die Ambition, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 zu aktualisieren, ist verblüffend, vor allem angesichts der Albernheit eines Großteils ihres Gesprächs. Welche Schlüsse können wir beispielsweise aus ihrem ersten Austausch über die unangebrachte Liebe zur Arbeit ziehen, der dann in eine Konversation über die analen Geräusche eines Motorrads mündet? Der Dialog kehrt immer wieder zu der Frage zurück, was in einer Zeit gesagt werden soll, in der nichts getan werden kann. Die kommunistische Bewegung ist tot, vernichtet von ihrem eigenen grotesken Erfolg in Russland und China. Westliche Gesellschaften sind besser als die marxistische Alternative, die nichtsdestotrotz eine emanzipierte Zukunft repräsentieren. Horkheimer ist überzeugt, dass die Welt verrückt ist und dass selbst Adornos bescheidene Hoffnung, die Dinge könnten sich eines Tages zum Guten wenden, nach Theologie stinkt. Horkheimer bemerkt: „Man muß wahrscheinlich davon ausgehen, daß wir uns sagen müssen, wenngleich es keine Partei mehr gibt, hat der Umstand, daß wir da sind, doch einen Wert“ (S. 61). Zusammengefasst ist der einzige Beweis, dass etwas Besseres möglich ist, der Umstand, dass sie dort sitzen und über die Möglichkeit von etwas Besserem reden.
Horkheimer fragt in dieser Situation: „Aus welchem Interesse heraus schreiben wir[?]“ (S. 51) „Man könnte sagen, das sind nur so Reden, Betrachtungen. Wem soll man‘s sagen” (S. 53). Er fährt fort: „Wir müssen den Verlust der Partei so aktualisieren, daß wir gewissermaßen sagen, wir sind noch genau so schlimm wie früher, aber wir spielen auf dem Instrument, wie es heute gespielt werden muß“ (S. 53f.). Und Adorno antwortet, überzeugend und ziemlich komisch: „Das hat formal etwas Bestechendes, aber was ist das Instrument?“ (S. 54). Auch wenn Adorno an einem Punkt zögernd anmerkt, dass er „das Gefühl [hat], daß das, was wir tun, schon irgendwie wirkt“ (S. 48), ist Horkheimer skeptischer. Er sagt: „Ich habe dabei den Instinkt, wenn ich nichts machen kann, dann sage ich auch nichts“ (S. 55).
Und er fährt fort, den Ton und den Inhalt des Manifests auf eine solche Art zu diskutieren, dass er es auf eine Absurdität reduziert: „Wir wollen, daß das, was heute in Amerika erreicht ist, in der Zukunft bewahrt wird, z.B. die Rechtssicherheit, die drugstores. Das muß dort, wo wir darauf zu sprechen kommen, klar hervorleuchten.“ Adorno antwortet: „Dazu gehört auch, daß die Television-Programme, solange sie Mist sind, eingestellt werden (S. 56)“. Sich selbst widersprechend, beschließt Horkheimer die aufgenommene Diskussion mit den grimmigen Worten: „Weil wir noch leben dürfen, sind wir verpflichtet, etwas zu machen“ (S. 71).
Im Jahr 1955, kurz bevor dieses Gespräch stattfand, verfasste Samuel Beckett Warten auf Godot. Die Spekulationen von Vladimir und Estragon antizipieren Max‘ und Teddies absurdistischen Dialog. Vladimir sagt zum Beispiel: “Wir wollen unsere Zeit nicht bei unnützem Reden verlieren. Wir wollen etwas tun, solange die Gelegenheit sich bietet! Uns braucht man nicht alle Tage. [...] Aber in dieser Gegend und in diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns paßt oder nicht. Nützen wir es aus, ehe es zu spät ist.” (( Beckett, S. (1960): Warten auf Godot. Übertragung von Elmar Tophoven. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 96. )) Eine solche Einführung in die Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno mag unfair erscheinen. Verdienen sie meinen Spott? „Ja und nein“, um Horkheimer zu zitieren. In einem gewissen Sinne verspottet sich ihr Text bereits selbst. Der fröhliche Ton vieler ihrer Wortwechsel zeigt, dass sie sich der wortwörtlichen Unmöglichkeit, ihr Projekt durchzuführen, sehr wohl bewusst sind. Horkheimer behauptet, dass der Ton, in dem das Manifest verfasst ist, irgendwie seine Vergeblichkeit in der gegenwärtigen Periode überwinden muss, in der es keinerlei praktische Wirkung haben kann. Etwas Ähnliches findet in dem Dialog statt. Der Ton offenbart, was über den Widerspruch zwischen der existenziellen Situation der Sprecher und ihres Projekts nicht adäquat erklärt werden kann. Aber sie versuchen ihr Bestes, den Widerspruch explizit zu machen.
Das Hindernis ist ihre Konzeption des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Adorno bemerkt, dass Marx und Hegel abstrakte Ideale ablehnen und die Vorstellung des Ideals als nächsten historischen Schritt rekonstruieren. Dies bedeutet, dass Theorie an Praxis, also an wirkliche historische Kräfte gebunden sein muss. Wie Horkheimer später sagt: „Die Wirklichkeit wäre zu messen an einem Aspekt, dessen Verwirklichungsmöglichkeit in bereits vorhandenen konkreten Ansätzen der historischen Realität aufgezeigt werden kann“ (S. 64). Doch Adorno argumentiert, dass Marx und Hegel nicht in einer Welt wie unserer gelebt haben, in der der Unwille, den nächsten Schritt zu gehen, die tatsächliche Verwirklichung der Utopie blockiert. Unter diesen Bedingungen kehrt die Versuchung utopischer Spekulation wieder, doch die Dringlichkeit, ein hegelianisch-marxistisches Desideratum zu erfüllen, blockiert die Weiterentwicklung des Gedankens. Horkheimer kommt zu dem Schluss, dass „[d]urch alles, was wir schreiben, die Praxis durchleuchten [muss]“ (S. 65), ohne jeglichen Kompromiss oder Konzession an die wirkliche historische Situation, eine scheinbar unmögliche Forderung. Dies resultiert in dem, was er „ein merkwürdiges Abwarten“ (ebd.) nennt, das Adorno als „[i]m besten Falle noch Flaschenpost“ (S. 67) definiert. Was am Austausch dieser beiden Philosophen am bemerkenswertesten ist, ist ihre Ablehnung, einen kritischen Standard aus philosophischer Reflexion abzuleiten, wenn die Geschichte diesen nicht mehr bereitstellen kann. Dies ist es, was Habermas später machen sollte: den Zusammenbruch des hegelianisch-marxistischen historischen Ansatzes zuzugestehen und eine angemessene philosophische Basis für Kritik zu etablieren. Wenn kein „nächster Schritt“ den Weg aufzeigt, kann möglicherweise stattdessen Ethik ihre Aufgabe übernehmen. Doch Horkheimer und Adorno insistieren auf der Wichtigkeit, ihr Denken geschichtlich einzuordnen, sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Position als auch der Abwesenheit einer Partei und einer Bewegung. Wie Horkheimer bemerkt: „[W]ir müssen unsere Existenzform als das Maß dessen sehen, was wir denken“ (S. 65).
Wie kann Kritik die gegebene Gesellschaft negieren, wenn diese Gesellschaft die einzige existenzielle Unterstützung des Kritikers ist? Der Kritiker ist das höchste kulturelle Produkt der Gesellschaft. In Abwesenheit realistischer Alternativen rechtfertigt seine Fähigkeit, die Gesellschaft zu negieren, diese. Weder kann er der Geschichte ins Transzendentale entfliehen, wie es bei Habermas der Fall ist, noch kann er ein historisches Argument auf der fortschrittlichen Bewegung der Geschichte basieren – kein Wunder also, dass der Dialog zwischen dem Komischen und dem Unheilvollen hinund herschwankt. Wie konnte sich der Marxismus dermaßen verstricken? Wie ich zu Beginn erwähnte, glaube ich, dass uns diese Frage zurück zu Marx und Lukács führt. Lukács‘ wichtiges Buch Geschichte und Klassenbewusstsein (( Lukács, G. (1970): Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien zur marxistischen Dialektik. Neuwied: Luchterhand. )) beinhaltete die einflussreichste Reflexion über die Beziehung von Theorie und Praxis in der marxistischen Tradition. Er erneuerte die hegelianisch-marxistische Kritik abstrakter Ideale, die dem Dilemma im Herzen des Dialoges zugrunde liegt. Dieser Text war Horkheimer und Adorno bekannt und sein Einfluss auf ihre eigenen Reflektionen ist offensichtlich. Lukács führt das Problem von Theorie und Praxis anhand einer Kritik eines frühen Textes an, in dem Marx fordert, dass die Theorie „die Massen ergreift“ (( Marx, K. & Engels, F. (1976): Werke (im Folgenden zitiert als: MEW), Bd. 1, S. 385. Berlin: Dietz Verlag. )). Doch – so Lukács – wenn die Theorie die Massen ergreift, steht sie in äußerer Beziehung zu deren eigenen Bedürfnissen und Absichten. Es wäre also bloßer Zufall, wenn die Massen theoretische Ziele erfüllen. Stattdessen müsste Theorie in den Bedürfnissen und Absichten der Massen verwurzelt sein, wenn sie wirklich und wahrhaft die Theorie ihrer Bewegung ist und nicht etwas fremd Aufgezwungenes. Lukács greift diese Thematik auf einem abstrakteren Level in seiner Kritik der kantischen Ethik wieder auf. In Lukács’ Terminologie ist die Antinomie von Theorie und Praxis ein Beispiel der allgemeineren Antinomie von Wert und Tatsache, „sollen“ und „sein“. Diese Antinomien stammen aus einem formalistischen Konzept der Vernunft, nach dem Theorie und Praxis einander fremd sind. Dieses Konzept der Vernunft versagt, in den gegebenen Tatsachen des sozialen Lebens diejenigen Möglichkeiten und Tendenzen zu entdecken, die zu einem rationalen Ziel führen. Stattdessen wird das Gegebene als fundamental irrational wahrgenommen, als bloß empirisches, faktisches Residuum des Prozesses formaler Abstraktion, in dem rationale Gesetze konstruiert werden.
Lukács erklärt, „das Sollen setzt gerade in seiner klassischen und reinen Form, die es in der kantischen Philosophie erhalten hat, ein Sein voraus, auf das die Kategorie des Sollens prinzipiell unanwendbar ist“ (( Lukács (1970), S. 284. )). Dies ist das Dilemma bürgerlichen Denkens: Politische Rationalität setzt als ihr materielles Substrat eine irrationale, rationalen Prinzipien feindliche soziale Existenz voraus. Der rationale Bereich der Staatsbürgerschaft, erleuchtet von moralischer Pflicht, steht in krassem Gegensatz zur kruden Welt der Zivilgesellschaft, die auf tierischen Bedürfnissen und dem Kampf ums Überleben basiert. Doch wenn dies für die bürgerliche Theorie gilt, wie steht es um die Theorie der proletarischen Bewegung? Ist Marxismus lediglich ein verhülltes ethisches Erfordernis, das den natürlichen Tendenzen der Spezies entgegengesetzt ist? Dies ist die Schwachstelle heroischer Varianten des Kommunismus, nach der Moralität und Leben entgegengesetzt sind. Opfer für die Partei, die nächste Generation und den „Arbeiter“ zu fordern, entspricht genau dem bürgerlichen Muster, das Lukács kritisiert. Das ist nicht Marx. Der frühe Marx begann bei der hegelianischen Kritik abstrakter Ethik und gelangte zu einem allgemeinen Konzept revolutionärer Theorie als Reflexion des Lebens im Gedanken. Es gibt zum Beispiel einen Brief an Ruge, in dem Marx schreibt: “Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.” (( MEW Bd. 1 (1976) S. 344. )) Stattdessen muss Philosophie von tatsächlichen Kämpfen ausgehen, in denen die lebendigen Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit erscheinen. Der neue Philosoph muss der Welt „ihre eignen Aktionen ihr erklär[en]“ (( Ebd., S. 346, Hervorhebung i.O. )), indem er zeigt, dass die tatsächlichen Kämpfe einen transzendierenden Inhalt besitzen, der mit dem Begriff einer vernünftigen Gesellschaft verknüpft werden kann. „Wir zeigen ihr [der Welt] nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.“ (( Ebd., S. 345, Hervorhebung i.O. )) „Der Kritiker“, folgert Marx, „kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.“ (( Ebd. )) Das meinte Horkheimer mit seiner Aussage, dass Gesellschaft an den „konkreten Ansätzen der historischen Realität“ (S. 64) gemessen werden muss. Oder wie Marx an anderer Stelle schreibt: “Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.“ (( Ebd., S. 386 )) Marx spätere Schriften sind verworrener und behalten nur noch Spuren dieser reflexiven Bewusstseinstheorie bei, wie zum Beispiel in der kurzen Passage im 18. Brumaire des Louis Bonaparte: „Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers [Krämer] sind oder für dieselben schwärmen. […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“ (( MEW Bd. 8 (1960), S. 142, Hervorhebungen i.O. ))
Dieser Abschnitt lädt zum Nachsinnen darüber ein, ob das Proletariat mit „Problemen“ konfrontiert ist, die theoretisch durch den Marxismus „gelöst“ werden, und zwar in einer analogen Weise wie die Lebensbedingungen die Klasse zu praktischen Lösungen antreiben. Leider wendet der späte Marx diese anzügliche Bemerkung nicht mehr an. Stattdessen stellt er die historisch-materialistische Theorie auf, dass „das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt“ (( MEW Bd. 13 (1961), S. 9. )). Diese deterministische Sprache lässt die Frage nach dem Verhältnis marxistischer Theorie zum proletarischen Klassenbewusstsein unbeantwortet.
Genau diese Frage wird von Lukács behandelt. Er musste zeigen, dass der Marxismus nicht nur rein zufällig den Gedanken und Handlungen des Proletariats entspricht; dass er nicht nur ein wissenschaftliches „Bewusstsein von außen“ ist, für das das Proletariat lediglich eine „passive, materielle Grundlage“ sein würde, sondern dass er wesentlich mit dem Leben dieser Klasse verwurzelt ist. Seine missverstandene Theorie der Verdinglichung und des Klassenbewusstseins bezieht sich auf die Form, in der die soziale Welt unmittelbar dem Bewusstsein aller Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft gegeben ist. Lukács schreibt, dass „das gesellschaftliche Sein in der kapitalistischen Gesellschaft für Bourgeoisie und Proletariat - unmittelbar - dasselbe ist“ (( Lukács (1970), S. 289. )). Und noch einmal: „Die Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat also mit der Bourgeoisie.“ (( Ebd., S. 268. )) Aber die Erfahrung der Verdinglichung ist abhängig vom Klassenstandpunkt. Es ist interessant, dass Lukács zur Untermauerung seiner These eine der wenigen Marx‘schen Abschnitte über Entfremdung zitiert, die ihm zur Verfügung standen:
„Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.“ (( MEW Bd. 2 (1962), S. 37. ))
Marx sagt, dass Bourgeois und Proletarier „dieselbe” Entfremdung erfahren, jedoch aus verschiedenen Blickwinkeln. Ganz ähnlich argumentiert Lukács: Wo die Kapitalisten die Verlängerung des Arbeitstages als eine Maßnahme zur Steigerung der Quantität der Arbeitskraft sehen, die sie zu einem bestimmten Preis gekauft haben, schlägt für die Arbeiter diese „Quantität in Qualität“ um. Der Arbeiter geht über die verdinglichten quantitativen Bestimmungen hinaus, die ihm unmittelbar in der verdinglichten Form der Objektivität seiner Arbeitskraft gegeben sind, weil er die damit verbundene reale qualitative Degradierung seines Lebens und seiner Gesundheit nicht ignorieren kann. Daraus folgert Lukács: „Die quantitativen Unterschiede der Ausbeutung, die für den Kapitalisten die unmittelbare Form von quantitativen Bestimmungen der Objekte seiner Kalkulation haben, müssen für den Arbeiter als die entscheidenden, qualitativen Kategorien seiner ganzen physischen, geistigen, moralischen usw. Existenz erscheinen.“ (( Lukács (1970), S. 292. ))
Das Proletariat sieht jenseits der bloßen Unmittelbarkeit, indem es einen Akt der (sozialen) Selbst-Bewusstwerdung unternimmt. Dieses Selbstbewusstsein geht hinter die verdinglichten Formen seiner Objekte auf ihre „Realität“. Diese mehr oder minder spontane Kritik der Verdinglichung ermöglicht alltägliche Praxen, die durch Gewerkschaften und Parteiorganisationen zur Basis einer revolutionären Bewegung entwickelt werden können.
Lukács behauptet, dass die Antwort der Arbeiter auf die Verdinglichung der Erfahrung im Kapitalismus die Grundlage ist, auf der marxistische Dialektik fußt. Man könnte sagen, dass Marxismus und Proletariat dieselbe „Methode“ vereint. Beide entmystifizieren die verdinglichten Erscheinungsformen auf ihre eigene Weise: die einen auf der Ebene von Theorie, die anderen auf der Ebene von Bewusstsein und Praxis. Wo die Theorie die Relativität der verdinglichten Erscheinungen im Hinblick auf ihre tiefer liegenden sozialen Strukturen aufzeigt, leben die Arbeiter diese Relativität, indem sie sich widerständig gegen die verdinglichten kapitalistischen Formen der Ökonomie zeigen, die ihrem Leben aufgezwungen werden. Beides, Theorie und Praxis, führt zu einer Kritik der ökonomischen und epistemologischen Prämissen des Kapitalismus. Oder, wie Marx im Kapital schreibt: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat.“ (( MEW Bd. 23 (1962), S. 22. )) Marx und Lukács begründen den methodologischen Horizont des Marxismus für die Frankfurter Schule. Dies ist der Hintergrund, vor dem Horkheimer und Adorno ihr neues Manifest diskutieren. Sie akzeptieren die Kritik an reiner Theorie; da das Proletariat nun aber eine überwindende Gesellschaftskritik nicht mehr unterstützt, droht jegliche Konzession an die Praxis, die Theorie in die Sphäre alltäglicher politischer Taktiererei zurück zu schleifen – oder schlimmer noch, sie wird zur Komplizin der Ermordung von Millionen durch die kommunistischen Regime. Wie Horkheimer bemerkt: „Was heißt Praxis, wenn es keine Partei mehr gibt? Bedeutet dann nicht Praxis entweder Reformismus oder Quietismus?“ (S. 60f.)
Nachdem die Revolution gescheitert ist, scheint es so, als gebe es keinen Ausweg aus der Falle, die sich aus der Spannung zwischen Norm und Geschichte ergibt. Die Rückkehr zu den „gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft“, also zu einer Art utopisch transzendentalem Denken, ist heute unmöglich. Aber es gibt auch keine Möglichkeit, den „nächsten Schritt“ für eine bessere Welt zu antizipieren. Horkheimer zeigt dieses Dilemma in zwei widersprüchlichen Aussagen auf, indem er zum einen saghint, „was wir denken, ist gar nicht die Funktion des Proletariats” (S. 67), und zum anderen, dass „[d]ie Theorie nur dort im eigentlichen Sinn Theorie [ist], wo sie der Praxis dient. Die Theorie, die sich selber genug sein will, ist schlechte Theorie“ (S. 60). Gibt es innerhalb der marxistischen Prämissen keine Alternative? Doch, während des Gesprächs taucht gelegentlich eine ausgeschlossene Alternative auf. Diese Alternative, auf die nur höhnisch verwiesen wird, ist Marcuse, der wie Banquos Geist über dem Gespräch schwebt. Adorno ist derjenige, der sich dieser Position am meisten annähert, um immer wieder von Horkheimer von ihr weggezogen zu werden. Einmal behauptet er: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Welt gibt, ohne [daß] objektive Gegenkräfte entbunden würden“ (S. 47). Dies wird sich als die These herausstellen, auf die Marcuse in seinem Eindimensionalen Menschen und in dem Versuch über die Befreiung anspielt. Aber Horkheimer lehnt diese Einstellung als zu optimistisch ab. Ein wenig später wehrt sich Adorno dagegen, dass die Menschen inhärent böse seien. „Sie werden nur Chruschtschows, weil sie immer wieder eine auf den Kopf bekommen“ (S. 50).
Doch wieder verneint Horkheimer die Hoffnung auf eine weniger repressive Zukunft und spottet über Marcuse, der einen Russischen Bonaparte erwarte, welcher die Welt rette und alles in Ordnung bringe. Was sollen wir mit dieser gespenstigen Gegenwärtigkeit dieser Marcuse‘schen Alternative anfangen? Es scheint mir, als antizipieren und verurteilen diese Aussagen bereits Marcuses spätere Offenheit gegenüber der Rückkehr der Bewegung in der Gestalt der Neuen Linken. Wo Horkheimer und Adorno schlussendlich die Neue Linke ablehnen, nimmt Marcuse den hegelianisch-marxistisch-Lukács‘schen Sprung zurück in die Geschichte. Adorno war der Bewegung gegenüber zunächst freundlich gesinnt, verurteilte sie jedoch letztendlich für ihre „Pseudo-Aktivität“ (( Adorno, Th.W. (2003): Resignation. In: Gesammelte Schriften 10.2. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, S. 796. )). Marcuse war sich völlig darüber im Klaren, dass die Neue Linke dem Marx‘schen Proletariat nicht entsprach, doch er versuchte in ihr einen Hinweis auf jene „objektiven Gegenkräfte“ zu finden, über die Adorno 1956 sprach. Auf diese Art und Weise könne Theorie wieder in Verbindung mit Praxis gebracht werden, ohne Zugeständnisse mit dem Bestehenden einzugehen – jedoch auch ohne ein Versprechen auf sicheren Erfolg. Marcuses wichtige Neuerung war die Einsicht in die präfigurative Kraft der Neuen Linken, ohne sie als einen neuen Agenten der Revolution zu identifizieren. Wir leben immer noch innerhalb des Horizonts progressiver Politik, den die Neue Linke abgesteckt hat; ihre Anliegen sind immer noch unsere eigenen, auch wenn sie natürlich im Laufe der Zeit verschiedentlich abgewandelt wurden. Aber der wichtigste Effekt der Neuen Linken war ihr Einfluss auf unsere Identität als Linke. Die Neue Linke entwickelte eine nicht-sektiererische Form progressiver Opposition, die den Standpunkt der meisten Menschen definiert, die sich heute als links verstehen. Zu Marcuses großer Überraschung gab Beckett an seinem 80. Geburtstag ein Gedicht heraus, das ihm gewidmet war. Das Gedicht erkennt die Hartnäckigkeit an, die von den vermeintlich unmöglichen Forderungen der Frankfurter Schule gegenüber der Geschichte ausgehen. Hier ist das Gedicht (( Nachdichtung von Eric Boerner. URL: <http://home.arcor.de/berick/illeguan/beckett/becketts.htm> (abgerufen am 21.01.2016). )):
pas à pas
nulle part
nul seul
ne sait comment
petits pas
nulle part
obstinément
Schritt für Schritt
ins Nirgendhin
keiner weiß
auf welche Art
Schrittchen Schritt
ins Nirgendhin
obstinat
Richard Westerman
LUKÁCS‘ PARTEI UND SOZIALE PRAXIS
Die grundlegenden Texte der Kritischen Theorie, Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein [GKB] und Karl Korschs Marxismus und Philosophie, sind die Produkte einer Krise des europäischen Marxismus. Beide wurden im Jahre 1923 publiziert und repräsentieren eine Antwort auf sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Revolutionen: Während die Bolschewiki die Kontrolle über Russland übernommen hatten, obwohl es relativ unterentwickelt war, wurden die kommunistischen Regierungen in Ungarn und Deutschland aufgrund des Fehlens breiter Unterstützung rasch gestürzt. Beachtenswert ist, dass sowohl Lukács als auch Korsch in diesen Regierungen gedient hatten – Lukács selbst an den Frontlinien mit der Roten Armee Ungarns. Die tief philosophischen Lesarten, welche Korsch und Lukács von Marx entwickelten – obwohl von der aufkeimenden sowjetischen Orthodoxie denkwürdiger Weise als „Marxismus der Professoren‘‘ verurteilt –, waren zum großen Teil sowohl ein Produkt ihrer persönlichen Verwicklung in die praktischen revolutionären Situationen als auch eine Antwort auf sie. Dass diese Bücher, wie Lukács beobachtete, „mitten in der Parteiarbeit, als Versuche, theoretische Fragen der revolutionären Bewegung für den Verfasser selbst und für seine Leser zu klären, entstanden“ (( Lukács (1970), S. 49. )) sind, wird für gewöhnlich vergessen.
Dies ist offensichtlich in der Rezeption des Konzepts der Verdinglichung. Frei gesprochen beschreibt Verdinglichung eine soziale Pathologie, durch welche die Individuen die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen durch starre, unveränderbare Gesetze bestimmt verstehen, mit der Folge, dass sie sich isoliert und unfähig fühlen, die Gesellschaft zu verändern. Für gewöhnlich wird – fälschlicherweise – angenommen, dass Lukács‘ Lösung eine aufpolierte Version des Deutschen Idealismus sei, laut welchem das Proletariat plötzlich erkenne, dass es der Schöpfer dieser objektiven Welt sei, sich spontan seine Schöpfung rückaneigne und dadurch befreie. Das Resultat ist, dass Lukács‘ Darstellung der Rolle der Partei im letzten Essay von Geschichte und Klassenbewusstsein durch diese Fehlinterpretation der Verdinglichung gelesen und er beschuldigt wird, den Weg für einen zentralisierten Staat unter der Kontrolle einer autoritären Partei gepflastert zu haben. Nach dieser Standardinterpretation scheint Lukács zu glauben, dass die Partei einfach für das Proletariat handeln müsse, da dieses nicht erkannt habe, dass es das Subjekt der Geschichte war. Er gilt als Befürworter einer blanquistischen Partei, die in eine post-revolutionäre Diktatur verfiel. Überraschenderweise erkannten wenige der Interpreten Lukács‘, dass er sich tatsächlich eine sehr viel demokratischere Partei vorstellte. Der hauptsächliche Grund für diese weit verbreitete Entstellung ist das Versagen, adäquat zu erfassen, was Lukács mit seinem zentralen Konzept der Verdinglichung meinte, und wie dies seine Theorie der Partei formte. Die meisten Interpretationen gehen davon aus, dass die Verdinglichung ein Fehler eines denkenden Subjekts ist – selbst wenn dieser Fehler auf soziale Gründe zurückgeführt wird. Die Partei würde nun versuchen, diesen Fehler zu korrigieren. Verdinglichung beschreibt jedoch keine Epistemologie; sie beschreibt von Anfang an eine Form von Praxis. Lukács‘ Partei spielt nicht die Rolle eines weisen Führers, welcher das Proletariat leitet – sie ist da um einen Ort für wirklich ent-verdinglichte und damit ent-verdinglichende Praxis zu schaffen. Statt eines blanquistischen Kaders professioneller Revolutionäre ist Lukács‘ Partei eigentlich eher eine institutionalisiertere Version des Massenstreiks von Rosa Luxemburg.
Zu Anfang werde ich die Wurzeln des Problems, welches Lukács zu lösen versucht, in Marx‘ Kritik der Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Zur Judenfrage lokalisieren und zeigen, dass dieses Problem eindeutig nicht von einer Avantgardepartei zu lösen ist. Dann untersuche ich Lukács‘ eigene Position: Ich werde argumentieren, dass seine Vorstellung der Partei irgendwo zwischen Lenin und Luxemburg liegt und er die formale Organisation durch die Partei als wesentlich für echtes proletarisches Klassenbewusstsein ansieht. Schließlich werde ich einige Möglichkeiten vorschlagen, in welchen dies als Modell für die Art von Aktivität stehen könnte, welche ein Gegengewicht zu existierenden sozialen und politischen Strukturen darstellen könnte. Marx‘ Zur Judenfrage – geschrieben als Antwort auf Bruno Bauers Pamphlet zur Frage voller Emanzipation der Juden innerhalb des deutschen Staates – reinterpretiert radikal die Bedeutung sozialer Freiheit. Indem Marx argumentierte, dass die Säkularisierung des Staates nur eine Reproduktion religiöser Teilung auf der Ebene der Gesellschaft bedeute, hinterfragte er die Hegel‘sche Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. Für Hegel war die Zivilgesellschaft der Bereich partikularer Bedürfnisbefriedigung und unmittelbarer sozialer Gesamtheit: Das Individuum war an andere Individuen durch ein ökonomisches System von Bedürfnissen gebunden, organisiert durch soziale Institutionen, basierend auf dieser grundlegenden Notwendigkeit. Auf der anderen Seite war der Staat der Bereich rationaler Freiheit, in welchem die (Staats-)Bürger als rationale, universale Individuen vereint waren. Für Marx war dies eine entfremdete Form von Freiheit: Sie bedeutete erstens, dass die Form der Politik scheinbar in einer unpersönlichen Kraft der Vernunft wurzelte, anstatt in freiem menschlichen Handeln; zweitens behandelte sie die Kategorien sozialer Existenz als unveränderlich, als notwendig und nur dem Wissen zugänglich, nicht aber der Veränderung. Marx schlug deshalb vor, dass wir den Himmel herunter auf die Erde holen und Gesellschaft selbst in das Reich der Freiheit verwandeln, indem wir die sozialen Verhältnisse selbst transformieren. Demnach entspräche wirkliche Freiheit der kollektiven Kontrolle über diese Verhältnisse.
Es ist diese Art von Freiheit, welche Lukács in der Parteiaktivität sieht. Ich denke jedoch, dass es unmittelbar offensichtlich sein sollte, warum eine Partei, welche die Revolution im Auftrag des Proletariats durchzuführen strebt, unfähig sein würde, sie zu realisieren. Eine solche Partei würde die Arbeiterklasse auf die Rolle von Zuschauern reduzieren, welche genauso unfrei wären wie zuvor. Tatsächlich lehnt Lukács eine solche „Top-down“-Partei extrem eindeutig ab, und es ist schwer zu verstehen, wie man nach einer ehrlichen und gründlichen Lektüre eine andere Schlussfolgerung ziehen kann. Er erklärt ausdrücklich: „Auch theoretisch handelt die kommunistische Partei nicht stellvertretend für das Proletariat“ (( Lukács (1970), S. 497. )), damit sie die Massen nicht auf eine „bloß anschauende, kontemplativ[e]“ Gesinnung reduziert, was zu einer „voluntaristische[n] Überschätzung der aktiven Bedeutung des Individuums (des Führers) und [einer] fatalistischen Unterschätzung der Bedeutung der Klasse (der Masse)“ führt (( Ebd., S. 484f. )). Und er benutzt wiederholt das Wort „Verdinglichung“, um vor einer Fixierung der Organisationsform und ihrer Isolation von Kritik oder Veränderung durch die Massen zu warnen. Lukács könnte nicht deutlicher sein: Eine „Top-down“-, proto-stalinistische Partei würde eine Rückkehr zum Mangel an Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft repräsentieren. Lukács greift, was 1922 – als der Erfolg der Bolschewiki ein Indikator für den klaren Sieg der Idee Lenins zu sein schien, der Idee eines disziplinierten Kaders von Revolutionären – möglicherweise eine unübliche Taktik war, stark auf Rosa Luxemburg zurück. Der Massenstreik, in welchen sie große Hoffnungen setzte, sollte die spontane Entwicklung von Klassenbewusstsein vollbringen, indem er alle Schichten der Arbeiterklasse zur Organisierung trieb. Luxemburgs Partei spielt lediglich eine sekundäre Rolle, faktisch nur wenig mehr als die Rolle eines Sekretärs, und sicher nicht irgendeine Art von Führung.
Nichtsdestotrotz lobte Lukács Luxemburg auch mehrfach für ihre Einsichten. Er befürwortet explizit ihre Kritik an den westeuropäischen Parteien, welche die Massenaktion unterschätzten und annahmen, nur eine geschulte Partei sei in der Lage die Führung zu übernehmen. Allerdings deutete er an, dass sie den gegenteiligen Fehler machen würde, und kritisierte sie für die „Unterschätzung der Rolle der Partei in der Revolution“ (( Ebd., S. 425, Hervorhebung i.O. )). Wie wir gesehen haben, denkt Lukács nicht, dass diese Rolle „Führung“ im üblichen Sinn zur Folge hat. Um zu verstehen, was Lukács meint, müssen wir einen etwas genaueren Blick auf seine Definition von Verdinglichung werfen. Die meisten Interpreten von Lukács verstehen Verdinglichung als einen erkenntnistheoretischen Irrtum. Sie denken, dass Lukács das Problem dahingehend identifiziert, dass die Kategorien, in welchen die kapitalistische Gesellschaft interpretiert wird, zu abstrakt und formal seien. Sie folgern, Lukács‘ Projekt sei die Ersetzung dieser Kategorien durch substanziellere, welche die qualitativ, zugrundeliegende Realität „akkurat“ reflektieren. Diese Lesart hält bedauerlicherweise einer genauen Lektüre des Textes nicht stand (( Siehe z.B. Arato, A. & Breines, P. (1979): The Young Lukács and the Origins of Western Marxism. New York: Seabury. )). Verdinglichung bezieht sich nicht auf ein Problem von Abstraktion, von Quantität gegenüber einem qualitativen Substrat – es bezieht sich vielmehr auf eine undialektische Erstarrung von Formen als Dinge, die nicht verändert werden können. Dies wird sehr deutlich im zentralen Essay des Buches „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“. Hier präsentiert Lukács eine Interpretation von dem, was er „bürgerliche“ Philosophie nennt: die klassische deutsche Denkweise von Kant, Fichte und Hegel. Er identifiziert die erkenntnistheoretische Hauptbeschäftigung solcher Philosophie: Sie beginnt mit der Trennung von Subjekt und Objekt; demzufolge ist ihre zentrale Frage: Wie weit entsprechen unser Wissen und seine Formen einer Realität, welche außerhalb des Bewusstseins liegt? Lukács argumentiert, dieser epistemologische Standpunkt reduziere uns auf bloße Beobachter der Gesellschaft: Wir denken, dass es nur möglich sei, sie durch vorbestimmte Formen zu erfassen. Lukács‘ Problem ist nicht, dass diese Formen falsch seien – vielmehr ist es eben der Versuch Subjekt, Objekt und Bewusstsein voneinander zu trennen. Wir können genauer verstehen, was Lukács mit Verdinglichung meint, wenn wir uns genauer anschauen, wie er über die Partei spricht. In erster Linie dient die Partei nach Lukács als die institutionalisierte Form des proletarischen Klassenbewusstseins. Ohne eine Partei wäre solches Bewusstsein formlos und unmittelbar; das Proletariat muss seinem Selbst-Bewusstsein eine institutionalisierte Form geben, um es selbst richtig zu verstehen. Die Partei ist demzufolge die Form, die sich das revolutionäre Proletariat selbst gibt; die führenden Teile der Arbeiterklasse organisieren sich in einer Partei. Wie Lukács es ausdrückt: „Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; […] damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewußtsein gehoben werde“ (( Lukács (1970), S. 495. )).
Während eine blanquistische Partei dazu da wäre, den Arbeitern vorzugeben, was sie denken sollen, verkörpert die Partei nach Lukács das Proletariat in seinen organisatorischen Formen. Darüber hinaus sind diese Formen nicht nur eine Repräsentation von schon Vorhandenem – die mehr oder weniger akkurate Repräsentation eines zugrunde liegenden Substrats der Arbeit oder des Wesens. Vielmehr meint Lukács, dass die Partei der „Akt des Selbstbewusstwerdens“ des Proletariats sei. Nur dadurch, dass das Proletariat sich selbst eine Form gibt, wird es wirklich zur Klasse. Des Weiteren weisen die engen Verbindungen zwischen Form und Existenz, welche Lukács herstellt, darauf hin, wie Verdinglichung als Problem in der Organisation der Partei zurückkehren könnte. Obwohl taktische Anliegen in der Organisation eine Rolle spielen, sollte dies nicht in einer aufgezwungenen Form, im Namen der Notlage, resultieren. Viel eher ist es ausschlaggebend, dass die Formen aus der Selbstorganisation des Proletariats entstehen. Lukács schreibt, dass „das Entstehen der kommunistischen Partei nur das bewußt getane Werk der klassenbewußten Arbeiter sein kann“ (( Ebd., S. 513. )). Deshalb ist Organisation auch keine einmalige Aktion: Lukács versucht nicht eine Reihe von (abstrakten, quantifizierbaren, kapitalistischen) Formen durch andere, „authentischere“, oder „qualitative“ Formen zu ersetzen. Dies zu tun, denkt er, würde die Rückkehr von Verdinglichung riskieren – welche er mit den Organisationsstrukturen von Parteiführung identifiziert. Für Lukács geht es nicht so sehr darum, was die Partei tut, sondern darum, welche Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe an der Formung ihrer Existenz sie den Proletariern liefert. Er schreibt: „[I]ndem die kommunistische Partei zu einer Welt der Tätigkeit für jedes ihrer Mitglieder wird, kann sie die Zuschauerrolle des bürgerlichen Menschen […] wirklich überwinden.” (( Ebd., S. 510f. ))
Lukács identifiziert die Partei als die praktische Überwindung von Verdinglichung. „[D]ie Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis.“ (( Ebd., S. 457. )) Wie Luxemburg weist er eine blanquistische Partei zurück, welche die Kontrolle im Namen der Arbeiter übernimmt. Aber er geht weiter als Luxemburg und insistiert auf einer Art fließender institutionalisierter Form für proletarisches Klassenbewusstsein, ohne welche dieses vage und uneffektiv sein würde. Ent-Verdinglichung ist demnach notwendigerweise praktisch – es meint bewusstes Engagement in Praktiken, welche der eigenen Existenz ihre Form verleihen. Die Partei ist praktisches Bewusstsein, die Verkörperung dieser Formen in einer Weise, die ihre Transformation erlauben. Obwohl Lukács‘ Darstellung sehr speziell auf den Umständen der industriellen Arbeiterklasse und der phänomenologischen Konstruktion des proletarischen Selbstbewusstseins beruht, denke ich, dass sein Konzept von ent-verdinglichender Praxis dazu dienen kann, progressive demokratische Organisation im Allgemeinen anzuregen. Sogar innerhalb gegenwärtiger sozialer und politischer Formen kann die Idee der Verdinglichung dazu von Nutzen sein, universalistische Diskurse über Rechte zu kritisieren, angefangen mit einem fixierten Standpunkt, welcher es unmöglich macht, die Grenzen von Staatsangehörigkeit oder Gruppenmitgliedschaft in vertretbarer Weise auszuhandeln. Grundlegender aber bietet Lukács‘ Partei ein Modell für soziale Aktion auf breiter Basis. Demokratisierung würde für Lukács eine umfassendere Beteiligung in der Gestaltung sozialer Beziehungen beinhalten, statt lediglich die Reformation rechtlicher und politischer Kategorien. Wir sollten soziale Formen durch die Idee von Praktiken verstehen – das heißt, durch strukturierte, wiederholte Interaktionen, welche eine bestimmte Signifikanz oder Bedeutung innerhalb der Totalität einer Kultur erlangen. Es sind diese Praktiken, die verdinglicht werden. Statt sie als Dinge zu sehen, die wir tun, Dinge, die nur dadurch Bedeutung erhalten, dass wir fortfahren, sie zu praktizieren, behandeln wir sie fälschlicherweise als fixiert und unveränderlich. Soziale Praktiken können nahezu als göttlich sanktioniert erscheinen. Alternativ könnten wir eine angeblich wissenschaftliche Theorie entwickeln, welche diese Praktiken in Kategorien einer ewigen, unabänderlichen Menschennatur erklärt, welche sich unvermeidlich in spezifischen sozialen Formen entwickelt. Ent-Verdinglichung würde eine bewusste Transformation dieser Praktiken beinhalten: Wir sollten, würde Lukács argumentieren, unsere Praktiken als Dinge behandeln, welche wir den Umständen anpassen können. Wir können soziale Formen nicht beliebig aus dem Nichts heraus neu erschaffen – gleichzeitig aber können wir sie, durch Anerkennen dieser Formen als Praktiken, als Dinge, die wir tun, für kontinuierliche Transformation öffnen.
Auf die Anregung von Sourayan Mookerjea hin möchte ich beispielhaft auf „Alter- Globalisierung“ als ein Modell verweisen. „Alter-Globalisierer“ heißen die globale Interaktion und Kooperation, die die aktuelle Entwicklung generiert, willkommen. Allerdings lehnen sie neoliberale Ideen ab, nach welchen sich eine solche Entwicklung nur auf eine Weise vollziehen könne, determiniert durch wissenschaftlich erklärbare ökonomische Prozesse. „Alter-Globalisierung“ versucht deswegen, alternative soziale Praktiken zu entwickeln, die sich an einer positiven Neudefinition sozialer Interaktion orientieren, nicht der gedankenlosen Ablehnung von Internationalismus. Lukács‘ Parteimodell deutet auch darauf hin, auf welche Weise diese Aktivität umgesetzt werden muss: Es muss eine Graswurzelbewegung mit bewusstem Bezug auf das Problem der eigenen Organisierung sein. Das heißt, emanzipatorische Bewegungen sollten sich nicht als instrumentell zur Erreichung eines spezifischen Zwecks verstehen; stattdessen müssen sie einen großen Teil ihrer Energie auf sich selber und die Gestaltung der Verfahren lenken, die sie als Organisation zusammenhalten. Dadurch liefern sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu der Art ent-verdinglichender Praxis zu gelangen, welche Lukács anstrebt. Um es zusammenzufassen: Lukács‘ Verständnis der revolutionären Partei zielt auf das Einlösen einiger emanzipatorischer Ziele aus Marx‘ Zur Judenfrage. Statt eines zentralisierten Kaders professioneller Führer gestaltet sich Lukács‘ Partei nach dem Luxemburg‘schen Anspruch einer Basis-Selbstorganisation. Indem Lukács die Partei als die bewusste Form sozialer Beziehungen interpretiert, verweist er auf die Bedeutung einer objektiven Darstellung unserer Praxis, wenn wir unsere soziale Existenz richtig verstehen wollen. Aber er deutet auch auf eine neue Definition von Praxis hin. Eben der Akt der Selbstorganisation oder das bewusste Verändern der Praktiken, die unsere soziale und kulturelle Totalität bilden, ist für Lukács das Wesen revolutionärer Praxis. Wenn wir bestimmte Arten der Interaktion als ewig und unveränderlich akzeptieren, unterliegen wir der Verdinglichung. Nur durch den kontinuierlichen Kampf gegen das Erstarren unserer Praktiken zu unveränderlichen Formen können wir hoffen, emanzipiert zu werden.
Chris Cutrone
ADORNOS „LENINISMUS“
Die politischen Ursprünge der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sind aus verschiedenen Gründen unklar geblieben, nicht zuletzt wegen des diesbezüglich wortkargen Charakters der wichtigsten Schriften ihrer Vertreter. Die Motivation für solche Zurückhaltung seitens dieser Theoretiker ist selbst schon erklärungsbedürftig: Warum sie Selbstzensur betrieben, ihre Ideen verschlüsselten und sich darauf beschränkten, Theorie als „Flaschenpost“ ohne unmittelbaren oder bestimmten Adressaten zu schreiben. Wie Horkheimer es formulierte, bestand die Gefahr, „die Haltung eines Orakels“ einzunehmen; er fragte einfach: „Wem soll man’s sagen?“ (S. 53). Es lag nicht bloß am Exil in Amerika während der Nazi-Ära oder an der Zwangslage des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Manche ihrer Ideen wurden explizit genug ausgedrückt. Vielmehr hat der Zusammenbruch der marxistischen Linken, in dem das Denken der Kritischen Theoretiker geformt worden war, infolge der Oktoberrevolution 1917 in Russland und der Revolution und des Bürgerkriegs in Deutschland 1918–19 ihre Perspektive auf politische Möglichkeiten in ihrem historischen Moment tief beeinflusst. Die Frage ist, inwiefern das Marxismus war.
Eine Reihe von Gesprächen zwischen Horkheimer und Adorno aus dem Jahr 1956, am Höhepunkt des Kalten Krieges, gibt Einblick in ihr Denken und darin, wie sie ihre Situation im Verlauf der Entwicklung des Marxismus im 20. Jahrhundert verstanden. Eine Auswahl aus dem Transkript wurde vor kurzem in der New Left Review (2010) unter dem Titel „Towards a New Manifesto?“ veröffentlicht. Die deutsche Veröffentlichung des vollständigen Transkripts läuft unter dem Titel „Diskussion über Theorie und Praxis“ und in ihrer Diskussion spielte tatsächlich die Überlegung eine Rolle, das Kommunistische Manifest im Lichte der geschichtlichen Veränderungen neu zu schreiben. Innerhalb einiger Jahre nach diesem Gespräch begann Adorno seine Arbeit an einer Kritik des Godesberger Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die 1959 den Marxismus offiziell aufgab, brach dieses an Marx’ gefeierter Kritik des Gothaer Programms, das 1875 die SPD begründet hatte, modellierte Projekt aber ab. Besonders Adorno, aber auch Horkheimer, befassten sich also noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der Frage einer Fortsetzung des Projekts Marxismus. In ihren Gesprächen bekundet Adorno sein Interesse, eine Neufassung des Kommunistischen Manifests im, wie er sagt, „[s]treng leninistische[ n]“ Sinne zu schreiben. Horkheimer lehnte dies nicht ab, sondern wies nur darauf hin, man könnte ein solches Dokument, das fordert, was er die „Wiederherstellung einer sozialistischen Partei“ nennt, „in Rußland […] nicht verbreiten“, während es „in USA und Deutschland […] keinen Wert“ hätte. Nichtsdestotrotz meinte Horkheimer, es sei notwendig aufzuzeigen, „warum man Kommunist sein kann und die Russen verachten“. Wie Horkheimer es ganz einfach formulierte: „Theorie ist gleichsam eines der Instrumente des Menschen“ (S. 66). Daher stellten sie sich die Aufgabe, zu versuchen, den Marxismus fortzuführen, wenn auch nur als „Theorie“. Nun ist es genau diese scheinbare Abwendung von politischer Praxis und der Rückzug in die Theorie, die viele Kommentatoren dazu bewog, der Frankfurter Schule zu unterstellen, sie hätten den Marxismus aufgegeben. Zum Beispiel beschrieben Martin Jay, in Dialektische Phantasie (( Jay, M. (1976): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt/Main: Fischer. )), und Phil Slater, der in seinem Buch eine „marxistische Interpretation“ der Frankfurter Schule anbietet (( Slater, P. (2015): Origins and Significance of the Frankfurt School: A Marxist Perspective. London: Routledge. )), die Angelegenheit so: Marxismus sei nicht dafür vorgesehen, als bloße Theorie zu existieren, sondern müsse mit Praxis verbunden sein. Doch mit diesem Problem war das Frankfurter Institut nicht erst im Exil konfrontiert, nachdem man zum Beispiel gezwungen war, die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Marx-Engels Institut aufzugeben – gleichermaßen eine Folge des Stalinismus wie des Nationalsozialismus. Vielmehr verwies es auf das, was Karl Korsch, ein Mitbegründer des Instituts, 1923 schrieb: dass die Krise des Marxismus – das heißt die Probleme, welche sich bereits in der Ära der Zweiten Internationale im späten 19. Jahrhundert manifestiert hatten (der sogenannte „Revisionismusstreit“) und in ihrem Zusammenbruch und ihrer Spaltung im Ersten Weltkrieg und den folgenden Revolutionen kulminierten – bedeutete, dass die „Nabelschnur“ zwischen Theorie und Praxis bereits „zerrissen“ worden war. Der Marxismus bedurfte, gleichermaßen in Theorie und Praxis, einer Transformation, doch diese Transformation konnte nur als eine Funktion nicht nur von Praxis, sondern auch von Theorie erfolgen. Beide erlitten dasselbe Schicksal. Sowohl für Korsch wie auch für Georg Lukács standen in ihren 1923 verfassten, für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule grundlegenden Schriften Lenin und Rosa Luxemburg exemplarisch für den Versuch, marxistische Theorie und Praxis zu reartikulieren.
Besonders Lenin, den Lukács als „Theoretiker der Praxis” bezeichnete, lieferte einen, tatsächlich den ausschlaggebenden Schlüssel in Bezug auf politische Aktion und theoretisches Selbstverständnis für das Problem, mit dem der Marxismus in diesem historischen Moment konfrontiert war. Wie Adorno bemerkt: „Ich wollte immer […] eine Theorie“ entwickeln, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“ (S. 69). So stellt sich die Frage: In welcher Weise soll ihnen „die Treue“ gehalten werden? Verschiedene Aussagen in zwei Schriften von Horkheimers und Adornos Kollegen Herbert Marcuse, seine „33 Thesen“ von 1947, und sein Buch Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus von 1958, können dabei helfen, Licht darauf zu werfen, wie die Angehörigen der Frankfurter Schule zur Politik des „Kommunismus“, insbesondere von Lenin, standen. Außerdem explizieren verschiedene Briefe von Adorno an Horkheimer und Benjamin in den späten 1930ern Adornos positive Einstellung Lenin gegenüber. Schließlich formulieren Schriften aus Adornos letztem Jahr, 1969, die „Marginalien zu Theorie und Praxis“ und „Resignation“, den Inhalt seines „Leninismus“ im Lichte seiner Kritik der Neuen Linken der 1960er neu und spezifizieren ihn weiter. Die Herausforderung ist, solchen „Leninismus“ zu erkennen, der ansonsten obskur oder eigentümlich erscheinen mag, aber in Wirklichkeit auf die Politik des frühen 20. Jahrhunderts zurückverweist, die Adorno und seine Kohorte nachhaltig prägte. Dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine solche Perspektive im späteren Abschnitt von Adornos Leben hatte. Wie hat ein solcher „Leninismus“ unter veränderten Bedingungen seinen Einfluss derart bewahrt, dass Adorno ihn bis zum Ende seines Lebens kritisch zur Anwendung bringen konnte? Außerdem: Was könnte Adornos Perspektive auf „Leninismus“ über Lenin selbst aussagen? Warum und inwiefern blieb Adorno ein Marxist und welche Rolle spielte Lenin dabei?
Eine deutliche Erklärung für Adornos „Leninismus“ war die Wichtigkeit des Bewusstseins in Adornos Einschätzung des Potenzials für emanzipatorische soziale Veränderung. Zum Beispiel schrieb Adorno in einem Brief an Horkheimer, in dem er sich kritisch über Erich Fromms humaneren Zugang zur Freud’schen Psychoanalyse äußerte, Fromm zeige “eine Mischung aus Sozialdemokratie und Anarchismus, vor allem ein empfindlicher Mangel an dialektischem Begriff. Er macht es sich mit dem Begriff der Autorität zu leicht, ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen.“ (( Adorno, Brief an Horkheimer vom 21.03.1936, zit. nach Wiggershaus, R. (1988): Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. Frankfurt/Main: dtv, S. 299. )) Adorno dachte, dass Fromm so drohte, etwas, was er den „Dreh, den die bürgerlichen Individualisten gegen Marx haben“ nannte, anzuwenden und schrieb an Horkheimer, er betrachtete dies als eine “wirkliche Bedrohung der Linie der Zeitschrift” (( Ebd. Zudem schrieb Adorno: „Wenn es einem um das zu tun ist, was mit den Menschen möglich wäre, so kann man den wirklichen Menschen nur schwerlich gut bleiben. Es ist schon so weit gekommen, daß Menschenfreundlichkeit beinahe ein Index von Gemeinheit ist […]. Die Gemeinheit der Menschenfreundlichkeit dürfte darin stecken, daß die Güte einen Vorwand bietet, an den Menschen genau das zu bejahen, wodurch sie sich selber nicht bloß als Opfer sondern als virtuelle Henker bewähren“ (Brief an Horkheimer vom 02.06.1941, zit. nach ebd., S. 301). )). Doch die politische Rolle einer intellektuellen, theoretisch sachkundigen „Avantgarde“ unterliegt der üblichen Kritik, dass der Leninismus dazu tendiert, soziale Emanzipation repressiv zu beherrschen anstatt kritisch zu fördern. Eine kompliziertere Auffassung der Rolle des Bewusstseins in der historischen Transformation der Gesellschaft kann in Adornos Briefverkehr über Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1936 gefunden werden. Dort lobt Adorno Benjamins Werk dafür, dass es eine Darstellung der Beziehung der Intellektuellen zu den Arbeitern im Sinne Lenins liefere. Wie Adorno es in seinem Brief an Benjamin formulierte, ist das Proletariat
„selber bürgerlich produziert […] [D]as tatsächliche Bewußtsein der tatsächlichen Proletarier [hat] vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraus […] außer dem Interesse an der Revolution, [trägt] sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters […] Es ist kein bürgerlicher Idealismus, wenn man erkennend und ohne Erkenntnisverbote dem Proletariat die Solidarität hält, anstatt daß man, wie es immer wieder unsere Versuchung ist, aus der eigenen Not eine Tugend des Proletariats macht, das selber die gleiche Not hat und unserer Erkenntnis so gut bedarf wie wir des Proletariats bedürfen, damit die Revolution gemacht werden kann. Von dieser Rechenschaft über das Verhältnis der Intellektuellen vom Proletariat hängt nach meiner Überzeugung wesentlich die weitere Formulierung der ästhetischen Debatte ab, für die Sie eine so großartige Inauguraladresse geliefert haben. […] [Ihr Essay zählt] zu dem tiefsten und mächtigsten an politischer Theorie […], das mir begegnet ist, seit ich [Lenins] Staat und Revolution las.“ (( Adorno, Brief an Benjamin vom 18.03.1936, in: Adorno, T.W. & Benjamin, W. (1995): Briefwechsel 1928–1940, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 171–175. ))
Wahrscheinlich dachte Adorno auch an Lenins Was tun? oder an Der ‚Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Im ersteren führte Lenin die berühmt(-berüchtigt) e Unterscheidung zwischen „trade-unionistischem“ und „sozialistischem Bewusstsein“ ein. Aber im letzteren beschrieb Lenin die fortdauernden „bürgerlichen“ sozialen Bedingungen intellektueller Arbeit per se, welche die proletarisch sozialistische Revolution lange überleben würden, ja sogar (Aussagen aus Was tun? wiederholend) dass die Arbeiter durch die bloße Aktivität der intellektuellen Arbeit (wie zum Beispiel Journalismus oder Kunstproduktion), einschließlich und vielleicht insbesondere in ihrer Aktivität als politische Kader der Kommunistischen Partei, voll und ganz „bürgerlich“ geworden waren. Die politische Revolution der Arbeiter bedeutete für Lenin eine im Wesentlichen bürgerlich bleibende Gesellschaft zu regieren. Die Revolution würde die Arbeiter sozusagen erstmals vollkommen bürgerlich machen, was die Vorbedingung dafür wäre, die Gesellschaft über die bürgerlichen Bedingungen hinaus zu führen. (( In Der ‚Linke Radikalismus’, die Kind derkrankheit im Kommunismus schrieb Lenin: „Schamlosester Karrierismus ... [und] abgeschmackte spießbürgerliche Routine – das alles sind ohne Zweifel die gewöhnlichen und überwiegenden charakteristischen Züge, die der Kapitalismus überall, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Arbeiterbewegung erzeugt. ... [D]er Sturz der Bourgeoisie und die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, [wird] dieselben Schwierigkeiten in noch größerem, unermeßlich größerem Ausmaß schaffen“. Lenin, W.I. (1984): Ausgewählte Werke, Bd. 3. Berlin: Dietz Verlag, S. 482. )) Sie wäre ein Moment, der nächste notwendige Schritt in der Selbstüberwindung der Arbeiter, in der emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft im Kapital, durch es hindurch und über es hinaus. Wie die Arbeiterbewegung selbst war der Marxismus diesem Prozess nicht äußerlich, sondern immanent. Adorno, im Gespräch mit Horkheimer, formulierte es so: „Man könnte sagen, Marx und Hegel haben gelehrt, daß es nicht abstrakte Ideale gibt, sondern daß das Ideal immer im nächsten Schritt liegt, daß das Ganze nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch den nächsten Schritt zu haben ist“ (S. 62).
Lukács hatte in einer Fußnote in seinem 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein erschienenen Essay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ dasselbe über Lenin bemerkt: „Es ist Lenins Verdienst, diese Seite des Marxismus, die den Weg zum Bewußtwerden seines praktischen Kerns weist, wieder entdeckt zu haben. Seine immer wiederholte Mahnung, jenes ‚nächste Glied’ der Entwicklungskette mit voller Wucht anzufassen, an dem im gegebenen Augenblick das Schicksal der Totalität hängt, sein Beiseiteschieben aller utopischen Forderungen, also sein ‚Relativismus’, seine ‚Realpolitik’ bedeuten eben das Aktuell- und Praktischwerden der Feuerbach-Thesen des jungen Marx.“ (( Lukács (1970), S. 339, Fußnote 166. )) In der sich anbahnenden Revolution 1917 bis 1919 in Russland, Deutschland, Ungarn und Italien wurde eine solche Politik der sozialistischen Transformation der Gesellschaft nicht ganz erreicht, sondern abgeschnitten. 30 Jahre später, im Kontext des beginnenden Kalten Krieges nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg, unternahm Marcuse in seinen „33 Thesen“ den Versuch, das Vermächtnis der Krise des Marxismus und der gescheiterten Revolution kritisch zu bewerten (( Marcuse, H. (2007): 33 Thesen. In: Schriften aus dem Nachlaß. Feindanalysen, Über die Deutschen. Springe: zu Klampen Verlag, S. 126f., 138f. )):
[These 3]: „[D]ie orthodox marxistische Lehre […] ohne Kompromiß zu vertreten [wäre] [v]or der politischen Wirklichkeit […] ohnmächtig, abstrakt, unpolitisch, aber wo die politische Wirklichkeit als ganzes falsch ist, mag die unpolitische Haltung die einzige politische Wahrheit sein.“
[These 32]: „Während die Gewerkschaften in ihrer traditionellen Struktur und Organisation eine revolutionsfeindliche Kraft darstellen, bleibt die politische Arbeiterpartei das notwendige Subjekt der Revolution. In der ursprünglichen Marxschen Konzeption spielt die Partei keine entscheidende Rolle. Marx nahm an, daß das Proletariat von sich aus, in Erkenntnis seiner eigenen Interessen zum revolutionären Handeln getrieben wird, sobald die revolutionären Bedingungen gegeben seien. […] Die Entwicklung hat [inzwischen] die Richtigkeit der Leninschen Konzeption von der avantgardistischen Partei als dem Subjekt der Revolution bestätigt. Es ist wahr, daß die kommunistischen Parteien heute nicht dieses Subjekt sind, aber es ist ebenso wahr, daß nur sie es werden können. Nur in der Theorie der kommunistischen Parteien ist noch die Erinnerung an die revolutionäre Tradition lebendig, die wieder zur Erinnerung an das revolutionäre Ziel werden kann [...]“
[These 33]: „Die politische Aufgabe würde dann darin bestehen, in den kommunistischen Parteien die revolutionäre Tradition wiederherzustellen.“ Wie Marcuse es 1958 in Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus formulierte: „[W]ährend der Revolution wurde deutlich, wie sehr es Lenin gelungen war, seine Strategie auf den tatsächlichen Klasseninteressen und Bestrebungen der Arbeiter und Bauern aufzubauen. […] Von 1923 an sind dann die Entscheidungen der Führung in wachsendem Maße von den Klasseninteressen des Proletariats abgetrennt worden. Sie setzen das Proletariat nicht mehr als ein revolutionäres Agens voraus, sondern werden dem Proletariat und der übrigen Bevölkerung auferlegt.“ (( Marcuse, H. (1964): Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus. Neuwied: Luchterhand, S. 147. ))
Im Gespräch mit Horkheimer 1956, in einer in der New Left Review-Übersetzung nicht enthaltenen Passage mit dem Titel „Individualismus“, thematisierte Adorno das Problem der sozial konstituierten Subjektivität, von dem er dachte, dass Lenin es gründlicher behandelt hatte als Marx: „Marx war zu harmlos, er hat sich wahrscheinlich naiv vorgestellt, daß die Menschen im Grunde wesentlich identisch sind und bleiben. Daß es dann gut wird, wenn man nur die schlechte zweite Natur von ihnen nimmt. Er hat sich nicht um die Subjektivität gekümmert, er wollte das nicht so genau wissen. Daß die Menschen bis ins Innerste Produkte der Gesellschaft sind, würde er als eine Milieutheorie abgelehnt haben. Das hat erst Lenin zum ersten Mal angesprochen“ (S. 71). Für Adorno bedeutete dies, dass der Kampf zur Überwindung der Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft nicht bloß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten war, sondern darüber hinausging. Es ging nicht nur um ihre Ausbeutung. Die sozialen Subjekte waren nämlich nicht bloß Produkte ihrer Klassenposition, sondern vielmehr determinierte die bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals alle ihre Subjekte in einem historischen Zusammenhang der Unfreiheit. Klassenpositionen waren lediglich ein Ausdruck der Struktur dieser universalen Unfreiheit. So schrieb Horkheimer in „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“:
“Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darüber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwärtige System den Namen der „Freiheit“ trägt und als liberales angesehen wird.” “Der Geschäftsmann ist von Gesetzen abhängig, die weder er noch irgendein anderer, noch eine von den Menschen hierzu beauftragte Macht mit Wissen und Willen entworfen hat, Gesetzen, deren sich zwar die großen Kapitalisten und vielleicht er selbst geschickt bedienen, deren Existenz aber als Tatsache hinzunehmen ist. Gute und schlechte Konjunktur, Inflation, Kriege, aber weiter auch die auf Grund der gegebenen Gesellschaftslage erforderlichen Eigenschaften von Dingen und Menschen werden durch solche Gesetze, durch die anonyme gesellschaftliche Realität bedingt. ”
“Die bürgerliche Denkweise nimmt diese Wirklichkeit als übermenschlich hin. Sie fetischisiert den gesellschaftlichen Prozeß.” “Der Fehler liegt […] keineswegs darin, daß die Menschen das Subjekt nicht erkennen, sondern darin, daß es nicht existiert. Es kommt darauf an, diesem freien, das gesellschaftliche Leben bewußt gestaltenden Subjekt zur Existenz zu verhelfen: dieses selbst ist nichts anderes als die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft. […] Für jenen kleinen Mann aber, dem die Bitte um Anstellung mit dem Hinweis auf die objektiven Verhältnisse abgeschlagen wird, ist es […] überaus wichtig, daß der Ursprung dieser objektiven Verhältnisse ans Licht gebracht werde, damit sie ihm selbst nicht so ungünstig bleiben. Nicht bloß seine eigene Unfreiheit, sondern auch die der anderen wird ihm zum Verhängnis. Sein Interesse weist ihn auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit.” (( Horkheimer, M. (1987): Dämmerung. Notizen in Deutschland. In Gesammelte Schriften Band 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932. Frankfurt/Main: Fischer, S. 360-363. ))
Im Verlauf des Marxismus im 20. Jahrhundert wurde eine solche Erhellung dessen, was eine progressiv-emanzipatorische Herangehensweise an das Problem des Kapitals konstituieren würde, abgeschnitten. Daher wurde es zunehmend schwierig, die „Ursprünge“ der fortdauernden sozialen Bedingungen der Unfreiheit „ans Tageslicht zu bringen“. In vielerlei Hinsicht war die Krise des Marxismus als eine Funktion der revolutionären Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, sondern verstärkt, wodurch sich die Krise der Menschheit vertiefte: Die Kritischen Theoretiker des Frankfurter Instituts waren sich der Tatsache wohl bewusst, dass der Faschismus als historisches Phänomen eine Folge des Scheiterns des Marxismus war. Der Faschismus war der missratene Sprössling der Geschichte des Marxismus selbst. Ein Jahrzehnt nach 1917 schrieb Horkheimer in einer Passage mit dem Titel „Indikationen:”
„Der moralische Charakter der Menschen ist mit Sicherheit aus Antworten auf bestimmte Fragen zu erkennen. […] Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Rußland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie dort die Dinge liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert; zweifellos gibt es viel Elend. […] Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Rußland als den fortgesetzten schmerzlichen Versuch betrachten, diese furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird wenigstens klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauere. Wenn der Schein dagegen spräche, klammerte er sich an die Hoffnung wie ein Krebskranker an die fragwürdige Nachricht, daß das Mittel gegen seine Krankheit wahrscheinlich gefunden sei. Als Kant die ersten Nachrichten über die Französische Revolution bekam, soll er seinen gewohnten Spaziergang von da an geändert haben.“ (( Ebd., S. 389. ))
Trotz allem, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zutrug, änderten Horkheimer und Adorno nie ihren Kurs. Sind wir schon bereit ihre Flaschenpost zu empfangen?
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Nicholas Brown: Es scheint mir, als ob die drei Vorträge im Grunde die gleiche Frage aufwerfen – wenn auch nicht explizit. Diese werde ich also nun stellen. Ich gebe zu, dass ich den Dialog von Adorno und Horkheimer nie fertig gelesen habe, gerade wegen des Beckett’schen Beigeschmacks. Sie haben es hier offenkundig mit einer Unmöglichkeit zu tun: Nämlich zu fragen, wie Lenin in Abwesenheit einer Partei die Treue gehalten werden kann; in Abwesenheit einer Partei, der man sich anschließen könnte und ohne einen Begriff einer Partei, der angemessen wäre. Natürlich stellt sich dann die Frage: Was tun, wenn nichts getan werden kann? Es gibt eine tragische Version davon in der Negativen Dialektik, in der Adorno wissentlich seine Auseinandersetzung mit den Stoikern anführt und seine eigen:e Position als im Wesentlichen stoisch einordnet, obgleich er besser – oder zumindest genauso gut – wie jeder andere weiß, dass die gesamte ethische Kraft der Phänomenologie des Geistes, deren Erbe Marx ist, die Unmöglichkeit oder Komplizenschaft der stoischen Position bedeutet. Die Selbstbezogenheit ihrer Sprache ist dem ähnlich, was in der Phänomenologie des Geistes das unglückliche Bewusstsein ist, das genau aus dem gleichen Grund wie Adorno oszilliert, denn ihr unglückliches Bewusstsein ist nicht imstande – in den Worten von Chris, der Lukács zitierte – die nächste Stufe zu erreichen, da es keine nächste Stufe gibt; und dies wiederum ist das Problem der Partei.
Dies führt uns also zur Frage der „Partei“ bei Lukács. Meine Frage an Andrew lautet: Was können wir tun – was ist zu tun – ohne eine Partei? Du scheinst der Meinung zu sein, dass Marcuse hierzu eine Antwort liefert. Richard hat gezeigt, dass „die Partei“ für Lukács nicht so sehr notwendigerweise ein Ding ist als ein Begriff. Die Partei ist dasjenige, das zwischen dem Subjekt in der Geschichte vermittelt. Sobald wir Epistemologie ablehnen, sobald wir Ontologie ablehnen, sobald wir Kant ablehnen, sobald wir Repräsentation – sowohl als philosophisches wie als politisches Konzept – ablehnen, befinden wir uns in diesem Hegel’schen Universum, und hier wird es gewissermaßen unsere Pflicht, „die Partei“, „den nächsten Schritt“ oder „eine Vermittlung“ zu finden. Es ist diese Pflicht, die Adorno nicht erfüllen konnte, und dies ist sowohl die Komik wie auch die Tragik bei Adorno. Meine Frage zielt also in die gleiche Richtung: Wie ist der philosophische Begriff der Partei heutzutage beschaffen? Deine Antwort klingt wie eine Art autonome, Negri’sche Antwort, die mir als eine nicht zufriedenstellende Lösung erscheint, da auch auf Hardt und Negri noch Hegel wartet; das Subjekt ist eine Fiktion, aber nichtsdestotrotz eine notwendige Fiktion – eher als eine Partei notwendig ist. Chris, es scheint so, dass es bei Marx, Lukács und sicherlich bei Adorno und Marcuse eine unaufgelöste Spannung zwischen dem Konzept universeller Unfreiheit und dem Begriff der Ausbeutung gibt. Letzterer hat in unserem gegenwärtigen Moment mit Fragilität zu tun und damit, wer vor dem Sturm der Geschichte geschützt ist und wer nicht, und dies ist nicht genau die gleiche Frage wie universelle Unfreiheit und Un-Entfremdung. Der Begriff der Un-Entfremdung, die romantische Seite der Eruptionen bei Marx, Lukács und der Frankfurter Schule, scheint zu verschwinden, um der eher nüchternen Emphase auf Ausbeutung zu weichen. Wenn das Ideal für die Frankfurter Schule der nächste Schritt oder das nächste Glied in der Kette war, was bedeutet diese Hegel’sche Idee in der Gegenwart?
AF: Was ich an Marcuse mag, ist, dass er in der Lage war, zwei Dinge auseinanderzuhalten, die für Marx, Lukács und Lenin wesentlich verbunden waren. Eines dieser Dinge war das Subjekt der Revolution, das andere die Kraft, die fähig ist, zumindest einen kleinen Teil sozialer Realität zu ent-verdinglichen. In der traditionellen marxistischen Konzeption waren die Arbeiter diejenigen, die ent-verdinglichen, indem die sich weigern, sich passiv den Formen zu fügen, die ihr Leben bestimmen. Es waren ebenso die Arbeiter, die die neue Gesellschaft errichten. Für Marcuse gibt es das Eine ohne das Andere. Man kann ent-verdinglichende Handlungen haben, seine Solidarität damit ausdrücken, sie theoretisch artikulieren, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese Handlungen in der Lage sein werden, die Gesellschaft zu überwinden und eine neue aufzubauen. Nach dem Mai 1968 in Frankreich wurde es klar, dass eine geschichtlich neue Form der Opposition in Erscheinung getreten ist. Daher glaube ich, dass er recht hatte, Marx‘ Theorie mit dieser Opposition zu verknüpfen. Ich bin der Ansicht, dass das immer noch eine wichtige Alternative zur Verzweiflung Adornos und Horkheimers darstellt, oder – umgekehrt – zum Versuch eine traditionelle marxistisch-proletarische Partei wiederzubeleben.
RW: Meine Antwort auf Was tun? ist, dass es nicht unsere Aufgabe ist, das zu sagen. Ich denke, das wäre Lukács‘ Antwort. Die Partei, oder irgendeine andere Form der Organisation, sollte meines Erachtens nicht als Instrument, sondern eher als die Möglichkeit gesehen werden, durch welche viele Willen zwar nicht notwendigerweise zu einem solchen werden, aber von sich immerhin als vereint zu denken lernen. Nicht so sehr in Bezug auf die spezifischen Entscheidungen, durch welche sie zur praktischen Handlung werden, sondern vielmehr wegen der Selbstorganisation, der institutionellen Formen, die sie sich selbst geben. Ich denke, dass Lukács‘ Kritik an Hegel und der bürgerlichen Philosophie überhaupt von der Idee eines Subjekts herrührt; der Idee, dass wir unsere Tätigkeit als ein auf die Welt einwirkendes und sich wahrnehmendes Subjekt auffassen. Was er in der Partei sieht, ist das Seiende, wenn ich diesen ontologisch verdinglichenden Begriff benutzen darf, das Seiende, das insoweit ein Subjekt ist, als es sich selber durch seine Organisationsformen objektiv manifestiert. Das ist geringfügig anders, als die Partei als Agenten zu verstehen.
CC: Worüber wir diskutieren ist politische Form. Mit anderen Worten: Die Partei ist eine Form. Wir sprechen über die Partei als Vermittlung: die Vermittlung von Theorie und Praxis, eine Vermittlung von Subjekt- und Objektpositionen. Bezüglich der Vorstellung des hegelianischen Ideals nächstem Schritt für Horkheimer und Adorno würde ich ,spekulativ und nicht wörtlich gemeint, etwas anführen: Andrew hob die fundamentale Ambiguität des späten Marx in Bezug auf sein Verständnis von Philosophie als junger Mann hervor. Ich würde allerdings sagen, dass die Frage der Vermittlung in seinem Werk immer wieder auftaucht. Die Kritik der politischen Ökonomie ist nicht bloß eine Analyse „bürgerlicher“ Formen, sondern eher eine Analyse und Kritik des aufkommenden Bewusstseins der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung übernahm die politische Ökonomie, kritisches bürgerliches Bewusstsein, allerdings erst zu einer Zeit, als das Denken der Bourgeoisie selbst vulgär geworden war. Marx lobt Adam Smith dafür, dass er bereit war, die Gesellschaft als in sich widersprüchlich darzustellen. Ich würde also die Frage nach dem nächsten Schritt in Bezug zur Frage der Kritik des Kapitals setzen. Wie ließe sich dann Marx’ eigene politische Praxis mit seiner theoretischen Kritik des Kapitals reartikulieren? Diese stellte den hegelianischen Versuch dar, für Kämpferinnen und Kämpfer der Arbeiterklasse, die in ihrer politischen Praxis infolge der Revolutionen von 1848 auf sehr konkrete Hindernisse gestoßen waren, soziale Form auf das Niveau des Selbstbewusstseins zu heben. Wenn man so will, haben sich Intellektuelle und Arbeiter in Bezug auf die Frage nach ihrem Zusammenwirken in der Kritik des Kapitals, um es in Adornos Worten zu sagen, „getroffen“. Nach den 1960er Jahren gab es eine Rückkehr zu Marx; in Bezug auf die Kritik des Kapitals gab es eine Rückkehr zum hegelianischen Marxismus. Wenn wir uns selbst als Intellektuelle bezeichnen, ist die entscheidende Frage, wie diese Ideen an Boden gewinnen können. Korsch sagte, dass die Krise des Marxismus die Nabelschnur zwischen Theorie und Praxis zu zerreißen droht; das bedeutet, die beiden sind zwei verschiedene Dinge. Anstelle der Liquidierung von Theorie und Praxis im Begriff der Form oder Partei würde ich eher die Vermittlung im Begriff der Form hervorheben.
Q & A
Wenn wir als Marxisten, Kommunisten oder Möchtegern-Radikale/- Revolutionäre nicht in der Position sind zu sprechen, so sollten wir fragen: Was wäre erforderlich, um uns in diejenigen zu verwandeln, die sprechen können? Wie können wir wie Lenin und Mao sprechen? Ich finde den Adorno-Horkheimer Dialog bemerkenswert; Horkheimer war sicher nicht der einzige, der Mao und Stalin für die Toten des Großen Sprungs nach vorn verantwortlich machte. Wieso haben Horkheimer und Adorno ihre Botschaft nicht nach China gesendet, anstatt sie als Flaschenpost aufzufassen und die eigentliche Revolution voreilig abzuschreiben?
RW: Es gibt kein Sprechverbot als solches. Aber es hängt davon ab, ob wir ex cathedra oder aus etwas anderem heraus sprechen. Ich bin mit Habermas einverstanden, wenn er darauf insistiert, dass wir uns, wenn wir über diese Dinge sprechen, mit allen anderen auf einer Augenhöhe treffen müssen. Eine Gefahr, die Lenin selbst bemerkte und auch in seinen letzten zornigen Briefen forderte, dass die Partei sich so weit wie möglich von den Sowjets fernhalten solle, war, dass sonst aller Wahrscheinlichkeit nach ehrliche Arbeiter und Bauern entweder eingeschüchtert wären oder mit Bewunderung auf die weisen Männer von Moskau schauten. Was wir tun sollten, um sprechen zu können, wäre folglich abzulehnen, was wir sind – wenn überhaupt. Ich denke, das ist immer die Gefahr, für jeden, der mit einem Abzeichen der Autorität spricht. Es führt zu der Art von Problem intellektueller Führung, das genau die Freiheit, welche Leute wie Marx im Auge hatten, ausgrenzt.
AF: Ich widerspreche dem! Es gibt keine unwissenden Bauern mehr. Diejenigen, die sich am lautesten jeglicher intellektueller Autorität widersetzten, sind selbst Intellektuelle. Also ist es einfach eine andere Theorie! Ich glaube nicht, dass es da irgendein Problem gibt. Es ist mehr eine Frage von „Gibt es jemanden, der zuhört?“, statt „Sind wir autoritär, unsere Meinung kundzutun?“ Das ist eine Schlussfolgerung, die ich aus den Kämpfen der guten alten Tage ziehe, als wir um die Frage von Autoritarismus stritten.
CC: Das Problem in Bezug auf die Selbsttransformation der Intellektuellen ist nicht wer spricht, sondern was gesagt wird. Ich würde eine andere Art von leninistischer Kategorie einführen, und zwar „Nachtrabpolitik”. Es gibt ein Problem in der Artikulation historischen Bewusstseins und empirischer Realitäten. Ich möchte auf ein von Andrew und Richard angesprochenes Problem zurückkommen, von dem ich denke, dass es in Bezug auf Verdinglichung sehr hilfreich war. Was Lukács mit Verdinglichung meinte, war die Zweite Internationale, die sozialistische Arbeiterbewegung, wie sie sich zu diesem historischen Zeitpunkt konstituiert hatte. Und deshalb sympathisierte Lukács mit Luxemburg, denn Luxemburg kritisiert diese Parteiform im Massenstreik-Pamphlet. Dort argumentiert sie, dass die Sozialdemokratie, ich würde sagen in einer Subjekt-Objekt Dialektik, der Arbeiterbewegung zum Hindernis geworden war: Historisch machte sich die Arbeiterbewegung selbst zu einem Objekt der Selbstkritik. Warum Horkheimer Angst vor China hatte, ist der offensichtliche „revolutionäre“ Erfolg dessen, was er und Adorno als konterrevolutionär betrachteten, nämlich des Stalinismus. Nachdem sie die 30er und die Umwandlung des Marxismus in den Stalinismus erlebt hatten, konnten sie es nur als Zeichen der Regression des Marxismus betrachten, dass der Stalinismus als der Marxismus der Nachkriegsperiode aufblühte. Nun gut, warum schickten sie ihre „Flaschenpost“ nicht an Intellektuelle in China? Weil das ein todsicherer Weg gewesen wäre, diese Intellektuellen sofort exekutieren zu lassen. Wir könnten ihre Äußerungen so lesen, dass sie prima facie eine anti-chinesische Befangenheit zeigen, doch da besteht eine Dialektik. Wenn Horkheimer sagt, nun ja, wie sieht es damit aus, dass zwar 20 Millionen Chinesen sterben werden, aber es danach keine verhungernden Chinesen mehr geben wird? Dann fragt er: „Was sollen wir darüber denken?“. Horkheimer und Adornos Gedanke war, dass eine Revolution, wie sie 1949 in China stattfand, nicht notwendig gewesen wäre, wenn sich die Revolution von 1917 nach Deutschland und darüber hinaus ausgebreitet hätte. Das war ihre Vorstellung von Emanzipation. Ihre Sorge war, dass die Bedingungen der Barbarei mit dem Kampf um Emanzipation verwechselt wurden.
NB: Zum Ort der Intellektuellen: Wenn es eine Massenbewegung gibt, ist die Situation des Intellektuellen sowohl deutlich einfacher also auch viel schwerer. Sie ist einfach, weil man weiß, was zu tun ist, aber das Projekt der Transformation, über das du geredet hast, ist schwierig. Das Problem, dem wir gegenüber stehen, ist ein anderes, nämlich dass es keine Massenbewegung gibt. Und insofern es eine gibt, ist sie vollkommen korrupt und rechts. Adorno stellt sich klar auf die Seite des Westens, also stellt sich die Frage gar nicht, Adorno für wirkliche chinesische Dissidenten verfügbar zu machen. Die Frage muss lauten: War es notwendig, dass Adorno sich so klar auf die Seite des Westens stellte und seine Verbindungen mit dem real existierenden Sozialismus so eindeutig abtrennte? Diese Frage ist ein wenig unklarer als diejenige, ob es sinnvoll gewesen wäre, chinesische Dissidenten die Adorno’sche Linie wiederholen zu lassen.
Kant forderte, dass wir insofern politisch denken sollen, als wir gezwungen sind, als Mitglieder der Gesellschaft eben diese zu kommentieren; wir sind verpflichtet, an der Entwicklung der Gesellschaft teilzuhaben. Lukács hatte die Einsicht, dass die Gesellschaft sich nur durch die Partei weiterentwickeln kann, weshalb die Frage der individuellen Verantwortung in der Geschichte gewissermaßen fehl am Platz ist. Allein die Partei, die die Fähigkeit hat, die Geschichte zu formen, ist verpflichtet, über Geschichte nachzudenken. Könnte es sein, dass die Auffassung der Partei von Lenin und Luxemburg davon beeinflusst ist? Wenn Luxemburg über die Abstimmung über die Kriegskredite im Reichstag besorgt ist, betrifft diese Sorge den Niedergang der Partei und das Bedürfnis, diese zu rekonfigurieren, um die Geschichte zu beeinflussen?
RW: Ich stimme nicht zu. Lukács denkt nicht, dass die Partei die Geschichte ändern kann, sondern die Klasse. Die Partei bringt die Klasse zustande. Die Partei mag der Anfangspunkt sein, aber sie ist ausdrücklich nicht der Endpunkt. Zu sagen, die Partei verändere unmittelbar die Geschichte, würde ihr die Art von heroischer Rolle zuschreiben, welche Lukács abzuwenden versucht.
CC: Ich würde sagen, dass die politische Partei oder die Agentur der politischen Vermittlung nicht selbst die Gesellschaft befreien kann. Allerdings kann sie einer solchen Emanzipation definitiv im Wege stehen, sodass man von ihr nur negativ denken kann. Die Wichtigkeit der Partei hängt vom Problem des historischen Bewusstseins ab. Wo ich folglich mehr mit Luxemburgs Kritik an der SPD ihren politischen Zusammenbruch betreffend übereinstimme, ist ihr Vorwurf, dass die Partei im negativen Sinne für die Geschichte verantwortlich ist. Sie sagt, dass die Partei einen Anteil daran hatte, die Geschichte in diese Krisensituation zu bringen, und dass der Partei, als Agentur der politischen Vermittlung, auch die Aufgabe zukommt, die Form, wie sie politische Handlungsfähigkeit vermittelt, selbst zu überwinden.
Zunächst: Ich kann den durch Adorno und Lukács vermittelten Lenin im Vergleich zu dem Lenin der Gesammelten Werke überhaupt nicht wiederkennen. Doch ich erkenne, dass das, was Adorno und Lukács als Lenin beschreiben, die Resolutionen des Zweiten und Dritten Kongresses der Komintern über die Rolle der politischen Partei in der proletarischen Revolution sind. Beinhaltet dies nicht eine falsche Geschichte der bolschewistischen Partei? Eine Geschichte der bolschewistischen Partei, die den Charakter, den die bolschewistische Partei zwischen 1918 und 1921 unter den Bedingungen des Bürgerkrieges angenommen hat, auf die Vorgeschichte der bolschewistischen Partei vor 1917 projiziert? Zum Zweiten: Für Marx und Engels galt von den 1840er Jahren bis zu Engels’ Tod - mit einer kurzen Unterbrechung in der Ersten Internationale, als sie eine Allianz mit den Proudhonisten eingingen - durchgängig der Den Haager Kongress-Beschluss von 1871, dass “das Proletariat nur dann als Klasse handeln kann, wenn es sich selbst als besondre politische Partei konstituiert“. Inwiefern tragen die Versuche, Marx hegelianischer zu machen, diesem politischen Aspekt der Interventionen von Marx und Engels angemessen Rechnung?
CC: Vielleicht ist der Unterschied zwischen dem Lenin, den du erkennen würdest, und dem Lenin des offiziellen Leninismus der Komintern derselbe, den du dann zwischen Marx selbst (oder Marx und Engels) in seiner eigenen politischen Praxis und der Art von hegelianisiertem Marx, den du bei Lukács und Adorno findest, triffst. Lenin hat in der Geschichte des Marxismus einen spezifischen Beitrag geleistet, der nicht ignoriert werden kann: Er ist der große Schismatiker des Marxismus – er hat den Marxismus gespalten. (( Vgl. Cutrone, C. (2011): Lenin‘s liberalism. Platypus Review 36 (Juni 2011). )) Genau das verschafft ihm Adornos Anerkennung. Seine Sichtweise ist nicht die einer kleinen Avantgarde, sondern es geht um Politik in der Arbeiterklasse. Was Lenin in der Zweiten Internationale einführt, ist die Idee konkurrierender Arbeiterparteien, die alle behaupten, antikapitalistisch, revolutionär und marxistisch zu sein. Die Krise des Marxismus verweist auf die politischen Kontroversen innerhalb des Marxismus. Das zu leugnen bedeutet zu sagen, Politik sei nur „die Arbeiter gegen die Kapitalisten“ und nicht ein Phänomen innerhalb der Arbeiterklasse. Die kautskyanische Partei, die Idee „eine Klasse, eine Partei“, dass alle Arbeiter gegenüber den Kapitalisten das gleiche Interesse haben, und der Versuch die „Partei der ganzen Klasse“ zu sein, leugnet, dass zwischen Arbeitern und Marxisten verschiedener Parteien über den Inhalt politischer Emanzipation gestritten werden kann.
AF: Für mich sieht es so aus, als sei die Position Lenins nicht einfach aus der marxistischen Theorie erklärbar oder ableitbar. Was Leute wie Lukács um 1923 oder Gramsci in seinen Gefängnisheften machten, war der Versuch seine Praxis in Marxistischer Theorie zu verankern, um das fehlende Glied zu finden. Es gibt viele verschiedene Aussagen aus Lenins frühen Schriften, die nicht zu dem passen, was er tatsächlich gemacht hat. Aber er wusste, was er macht, und es war historisch entscheidend, wie Chris eben erklärt hat. Also konnte man die Frage getrennt davon stellen, ob er je nach historischer Faktenlage die marxistische Theorie richtig angewandt hat und das Richtige getan hat. Lukács hat erkannt, dass Lenin etwas historisch Bedeutendes getan hat, und hat versucht die Theorie so umzudeuten oder zu interpretieren, dass sie integriert, was er getan hat. Lukács hat einen bedeutenden theoretischen Fortschritt geleistet, indem er das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse, marxistischer Theorie und der Praxis der politischen Parteien, die die Arbeiter repräsentieren, verstanden hat; welche Verbindung es zwischen ihnen geben kann, die in einem ontologischen Verhältnis begründet ist, eines Verhältnisses zur Realität, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Weisen dieser verschiedener Momente der Bewegung geteilt wird. Das ist eine sehr bedeutende theoretische Idee, die man meiner Meinung nach nicht in Marx, Engels oder Lenin finden kann, die aber unabdingbar ist, wenn man verstehen will, was geschichtlich passiert ist.
RW: Lukács macht sehr deutlich, dass die Partei letztendlich zu einer massenbasierten Bewegung heranwachsen soll. Aber in der Zwischenzeit, wie er explizit im Essay zur Parteiorganisation darlegt, müssen alle verschiedenen Bereiche, alle verschiedenen Versuche darüber, was die Partei tun soll, sich organisatorische Formen geben. Er ist für ein breites, pluralistisches Sprießen von verschiedenen Praktiken, was, wie ich denke, die Idee einer einzelnen, vereinigten Avantgardepartei, untergräbt. Das riskiert möglicherweise radikales Sektierertum, verhindert aber aus Lukács‘ Perspektive immerhin Verdinglichung.
NB: Ob Lukács und Adorno Lenin richtig verstanden haben, ist nicht die gleiche Frage und ist sinnvoll von der Frage zu trennen, ob Lenin politisch nützlich war, und was heutzutage zu tun ist. Und zur Hegelianisierung von Marx: Man kann Marx nicht „hegelianisieren“, weil Marx hegelianischer als Hegel selbst ist!
Ich nehme an, dass die primäre Stoßrichtung der These, dass Adorno ein Leninist ist, diejenige ist, den Leninisten Adorno für das Projekt einer Rekonstitution der Linken zu verpflichten. Worin besteht der Nutzen des Leninisten Adorno?
CC: Adorno verpflichtete sich selbst zu einem leninistischen Projekt. Er sagt: „Ich will Lenin die Treue halten.“ Was bedeutet das? Er sagte das, als 99,99% der Leninisten in der Welt nicht zugestimmt hätten, dass Adorno Lenin in irgendeiner Weise die Treue hielt. Ich würde also das Problem umdrehen und sagen, dass ich mich für den Lenin interessiere, der durch Adorno sichtbar wird. Wenn Adorno sagt ein „[s]treng leninistisches Manifest“, ist das nicht gegen Luxemburg gerichtet. Es ist der Lukács‘sche Versuch zu erfassen, was die Radikalen der Zweiten Internationale gemein hatten. Warum bezeichnete Luxemburg sich selbst als Bolschewistin? In den letzten Monaten ihres Lebens schrieb sie ein Essay mit dem Titel „Was ist deutscher Bolschewismus?“ In anderen Worten, „Das ist es, was wir wollen. Warum gehören wir zu den Bolschewiki?“ Ihre Kritik war kameradschaftlich – das ist der Punkt. Ich bin also daran interessiert, wie diese Geschichte des Marxismus im Speziellen durch die Augen Adornos, durch die Augen Lukács’, durch die Augen Korschs aussieht; wir wären nachlässig, ihre Einsichten in diese Geschichte zu ignorieren.
AF: An diesem Punkt der Geschichte wissen wir so wenig über die opponierenden Kräfte, ihr Potenzial und woher sie als nächstes kommen könnten, dass wir nicht die theoretische Basis und die Grundlagen der praktischen Erfahrungen haben werden, die die sozialistische Bewegung hatte, als sie ihre Parteien gründete und entwickelte. Unter gegenwärtigen Bedingungen müssen wir Ausgangspunkte von Opposition und Spannungen finden, die sich um die verdinglichende Kraft von Institutionen herum erzeugen, wo auch immer sie in Erscheinung treten – auch wenn sie nicht politisch aussehen oder erscheinen. Wir würden vorschnell Dingen den Riegel vorschieben, wenn wir eine Theorie und Partei hätten, die Kämpfe lenken würde.
CC: Was ist mit der Partei gemeint? Einerseits würde die Bildung einer Partei in einer aus der Geschichte bekannten Art zum gegenwärtigen Zeitpunkt Möglichkeiten ausschließen. Andererseits habe ich Bedenken gegenüber dem Hardt-Negri-Moment, in dem wir uns in Hinblick auf die „Bewegungslinke“ befinden, die die Partei als den Weg zum Stalinismus sieht. Wenn wir sagen, dass die ältere sozialistische Bewegung historische Erfahrung gesammelt hat, dann müssen wir auch sagen, dass uns das eine Generation lang verweigert wurde. So bleibt uns zu sagen, „OK, so etwas wie eine Partei?“, um die Vorstellung von „Form“ zu erweitern. Worauf Richard in Bezug auf den Begriff der Form hinweist, ist sehr wichtig. Die Gefahr liegt darin, ihn zu weit zu fassen; in dem, was ich vorher als „Nachtrabpolitik“ bezeichnet habe: um zu rechtfertigen, was wir ohnehin schon tun. Das ist eine Gefahr, der ich auf der einen Seite widerstehen würde. Auf der anderen Seite stimme ich zu, dass der Versuch, eine Partei nach einem historischen Modell umzusetzen, überstürzt und zum Scheitern verurteilt wäre.
RW: Das institutionelle Gedächtnis einer Partei ist entscheidend; ich denke, dass seine Abwesenheit zu einem desaströsen Zusammenbruch fortschrittlichen Denkens geführt hat. Ich habe schon zuvor die Luxemburg’schen Elemente bei Lukács hervorgehoben. Hier kritisiert Lukács Luxemburg, zurecht, denn eine Partei kann dieses institutionelle Gedächtnis bilden. Zu Andrew: wir wissen nicht wirklich, welche Kräfte dort sind. Der Akt der Bildung, oder die Unterstützung der Bildung einer Partei, kann ein Weg sein, es herauszufinden. Ich verweise darauf, was ich zuvor zu Lukács und seinem Beharren darauf, dass jede Position ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln versuchen sollte, gesagt habe. Wenn wir es als eine rein soziologische Frage behandeln, riskieren wir meines Erachtens, auf den gleichen verdinglichten Standpunkt des einfachen Faktensammelns zurückzufallen, statt Praxis zu betreiben. Die Entwicklung von Parteien voranzutreiben, von institutionalisierten Formen der verschiedensten Arten, ist der Weg, auf welchem diese oppositionellen Kräfte sich wirklich entwickeln können. Ohne dies würden die Kräfte weniger kohärent und ihrer Opposition weniger bewusst sein.
Wie können wir diese unterschiedlichen Theorien ohne den Anstoß zum Aufbau einer Partei, ohne eine starke Position zur Notwendigkeit von Führung praktisch auf die Arbeiterklasse anwenden? Die Verhältnisse, die in den 1950ern, 1930ern oder 1920ern existiert haben, sind nicht dieselben wie heute. Ohne Partei, ohne Führung - welche Hoffnung haben wir?
RW: Ich würde mit dieser Formulierung vorsichtig sein: es ist gefährlich, über das Anwenden von Theorien auf die Arbeiterklasse zu sprechen. Das Problem der Führung verweist darauf. Es spielt auf vorhin Gesagtes an, aber ich denke, die Tea Party ist ziemlich erfolgreich, in Anbetracht ihrer offensichtlichen Inkohärenzen und Absurditäten, eben weil es ihr an einer Führung mangelt und ihre totemischen Figuren entbehrlich sind. Es gibt Stimmen, aber keine Führung, sodass es einige verschiedene Tea Parties gibt. Dass sie so breitgefächert, zerstreut und dezentralisiert ist, ist einer der Gründe ihres Erfolgs.
AF: Wenn wir eine Partei hätten, die eine Autorität darstellen und auf die gehört würde, wären wir in einer viel besseren Lage. Aber wie kommen wir dahin?
CC: Was für die Rechte funktioniert, kann für die Linke nicht funktionieren. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Rechten und der Linken – dass die Rechte auf eine Weise an Inkohärenz aufblüht, wie die Linke das nicht kann. Auch würde ich, etwas polemisch oder auch zynisch sagen, dass die Tea Parties die wahren Kinder der Neuen Linken sind. Die Idee der theoretischen Führung, im Sinne einer Theorie, die angewandt wird, ist genau das, was die marxistische Tradition überwinden wollte. Das ist es, was sie als eine „bürgerliche“ Vorstellung von Theorie oder Epistemologie verstanden. Wenn wir aber bis auf Kant zurückgehen, gab es dort bereits die Idee einer selbstbewussten Praxis: Es geht nicht um die abstrakte Anwendung der Theorie auf die Praxis. Schon bei Kant – und ich denke, es gibt eine Kontinuität zwischen Kant und Hegel und Marx – geht es darum zu versuchen, existierende Praktiken zum Selbstbewusstsein zu erheben. Das ist etwas ganz anderes, als eine Theorie anzufertigen und sie auf die Realität anzuwenden.
Abschlussbemerkungen
AF: Ich glaube, dass die Linke immer noch innerhalb des Horizonts von Forderungen und Enttäuschungen lebt, die in den 1960ern und 1970ern entstanden sind. Bewegungen wie die Umweltbewegung, die feministische Bewegung und viele andere Proteste die in abgelegenen Bereichen der Gesellschaft entstanden sind (wie Medizin), existieren unter den Kategorien, die die Neue Linke benutzt hat, um neue Formen der Enttäuschung zu artikulieren. Das ist der Beitrag, den Marcuse geleistet hat; Adorno und Horkheimer haben dazu nicht beigetragen, weil sie die Neue Linke nur als ein kleines Aufflackern am Horizont betrachteten. Ich bin ziemlich verdutzt darüber, dass Marcuses Gedanken auf der Linken so umschifft werden und dass die Frankfurter Schule mehr und mehr als Benjamin Adorno und Horkheimer verstanden wird. Es drückt für mich eine gewisse mangelnde politische Ernsthaftigkeit aus, dass Leute einfach so den einzigen Denker überspringen, der sich mit der Art von Linkssein auseinandergesetzt hat, zu der wir heute fähig sind.
RW: Ich würde auch gerne mit einer Antwort auf den ‚‘Mangel an politischer Ernsthaftigkeit‘‘ abschließen. Der Grund für die Rückkehr von Leuten wie Adorno und Benjamin liegt darin, dass ein Großteil der akademischen Rezeption in den Literaturwissenschaften oder durch die Cultural Studies vorgenommen wurde. Und ich denke, dass der Grund dafür eben der Mangel an direktem Engagement und direkter Aktivität ist. Die Wichtigkeit von Engagement und einer Form von Praxis, mit einem gewissen Grad von Führung, welche man auf jene bezieht – eine theoretische Form von Praxis - ist meines Erachtens das Entscheidende.
CC: Ich würde mit einem Angebot schließen, Adorno als politischen Denker ernst zu nehmen und nicht nur als Literaten. Gewiss sagt er, „Musik und Kunst sind das, was ich kenne und deshalb schreibe ich darüber“. Allerdings legt er hier eine falsche Bescheidenheit an den Tag. Seine Arbeit hatte einen starken Einfluss auf die deutsche Soziologie, indem sie amerikanische Techniken der empirischen Sozialforschung und den Durkheim’schen im Gegensatz zum Weber’schen Ansatz in die Untersuchung der Frage der Moderne und des Kapitals einführte. In seinem Briefwechsel mit Marcuse 1969, in dem sich Bitterkeit über die von der Neuen Linken angezettelte Kontroverse zeigt, sagt Adorno zu Marcuse: „Schau, es ist das Institut. Es ist dasselbe Institut. Es ist unser altes Institut.“ Und Marcuse antwortet: „Wie kannst du nur behaupten, dass das Institut in den 60ern in der Bundesrepublik Deutschland das ist, was es in den 30ern war?“ Darauf konnte Adorno nur sagen, „Was ist mit meinen Büchern?“ In anderen Worten: „Was ist mit den Büchern, die mir die Existenz des Instituts zu schreiben ermöglichte?“ Adorno war also der einsame Verfechter des hegelianischen Marxismus innerhalb der deutschen Soziologie und Philosophie. Als solche sind seine Arbeiten kraftvolle Aussagen über die Art von Einsichten, die von der früheren marxistischen Tradition von Lukács und Korsch infolge der Krise des Marxismus und der Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts erreicht wurden, und versuchen diese am Leben zu erhalten. Folglich würde ich Adorno gegen seine Liebhaber verteidigen. Der Adorno, der in den Geisteswissenschaften herumgeistert, ist ein gesäuberter Adorno, ein entpolitisierter Adorno, ein Adorno, bei dem der Marxismus ausgeblendet oder in eine ethische Kritik der Gesellschaft umgewandelt wurde. Ich hingegen denke, dass Adorno sehr viel mehr über das Problem von Theorie und Praxis zu sagen hat, was politisch relevant ist. |P